Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
• Streit um den Zivilschutz
Die Regierungen hätten aus Sicht von Experten früher auf herausgegebene Unwetterwarnungen reagieren müssen.
Wissenschaftler sowie Politiker aus dem In- und Ausland haben den Regierungen von Bund und Ländern vorgeworfen, zu spät auf die Unwetterwarnungen reagiert zu haben. Die britische Hydrologin Hannah Cloke von der Universität Reading warf den deutschen Behörden „monumentales“Systemversagen bei der Flutkatastrophe vor. Warnungen des europäischen Frühwarnsystems seien bereits vier Tage vor den ersten Überschwemmungen herausgegeben worden, aber offenbar nicht in der Bevölkerung angekommen, sagte sie der „Sunday Times“. Cloke ist Expertin auf dem Gebiet, weil sie das Europäische Hochwasseraufklärungssystem Efas nach dem Hochwasser an Elbe und Donau im Jahr 2002 mitaufgebaut hat.
Der Katastrophenschutz liegt in Deutschland grundsätzlich in der Verantwortung der Bundesländer und Kommunen. Bei Naturkatastrophen allerdings können die Länder den Bund bitten, Unterstützung zu leisten, etwa Kräfte der Bundespolizei zu schicken.
Auch in Nordrhein-Westfalen regte sich Kritik. „Es stellt sich die Frage, wann genau das NRW-Innenministerium von den Unwetterwarnungen wusste und mit welchem Nachdruck es die Kommunen zum Handeln aufgefordert hat – die Unwetterwarnungen waren rechtzeitig da“, sagte Grünen-Co-Fraktionschefin Verena Schäffer unserer Redaktion. Auch sei der eigentlich für Katastrophenfälle im Land zuständige Krisenstab der Landesregierung nicht eingesetzt worden. „Warum hat man einen solchen Krisenstab der Landesregierung, wenn man ihn jetzt nicht einsetzt? Da stellt sich die Frage, ob dieses Gremium verzichtbar ist“, so Schäffer. Stattdessen habe das Innenministerium offenbar einen Stab auf Verwaltungsebene zusammengerufen, der die Zusammenarbeit mit den Bezirksregierungen koordiniert und Unterstützung angefordert habe.
Im Katastrophenfall ist im Landesrecht die Einsetzung eines
Krisenstabes vorgesehen, dem prinzipiell alle Ressorts der Landesregierung und die Staatskanzlei angehören sollen. Dieses Gremium steht unter der Federführung des Innenministeriums. Es soll die zur Lagebewältigung erforderlichen Entscheidungen treffen, Verwaltungshandeln auf allen Ebenen koordinieren sowie das Kabinett, Öffentlichkeit und Presse fortlaufend und einheitlich informieren.
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) bestätigte am Montag, dass dieser „große Krisenstab“nicht eingesetzt wurde. Seit Mittwoch, 14. Juli, tage aber eine Koordinierungsgruppe des Krisenstabes, in der zwar nicht die Minister säßen, aber jene, „die die praktische Arbeit machen – wir wollen vorankommen“. Diese Gruppe konferiere seitdem mehrmals täglich, minütlich träfen neue Lageberichte ein, die Grundlage für die Entscheidungen seien. Bereits am 13. Juli sei auch die sogenannte Landeslage eingerichtet worden, erläuterte Reul.
Der Deutsche Wetterdienst (DWD) gab Reul zufolge am 12. Juli, also zwei Tage vor dem Starkregen, um 10.28 Uhr eine Unwetterwarnung heraus, die an die Landesregierung und alle Landesstellen gegangen sei. Daraus habe sich aber noch nicht ergeben, an welcher Stelle
genau der Starkregen zu erwarten gewesen sei. Reul zeigte sich überzeugt, dass niemand zu Schaden gekommen sei, nur weil die Städte bei den Evakuierungen zu spät gehandelt hätten. Problematisch sei eher, dass viele Menschen sich weigerten, den Anweisungen zu folgen.
Der Minister beugte weiterer Kritik am Katastrophenschutz vor: „Es wäre das erste Mal, wenn in solch einer Situation keine Fehler passierten.“Dies werde zu gegebener Zeit analysiert. Das Wesen von Katastrophen und erst recht von Naturkatastrophen sei es, dass sie nicht vorhersehbar seien. „Das allergrößte Problem ist nicht, dass irgendeiner an irgendeiner Stelle mal irgendwas falsch oder zu wenig gewarnt hat.“Vielmehr herrsche die Befindlichkeit in der Bevölkerung vor, Katastrophen fänden anderswo statt – uns könne nichts passieren.
Grünen-Politikerin Schäffer sieht Schwachstellen im Warnsystem: „Es ist dringend notwendig, auch das System der Warnsirenen wieder aufzubauen und die Menschen darüber aufzuklären, welcher Warnton wie zu verstehen ist und wie darauf zu reagieren ist.“Reul verwies darauf, dass Nordrhein-Westfalen seit 2018 wieder in Sirenen investiere und Warntage, also Probealarme, abhalte.
Die FDP, im Bund in der Opposition, sieht ebenfalls Versäumnisse: „Die rechtzeitigen Warnungen der Meteorologen sind weder von den Behörden noch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk hinreichend an die Bürgerinnen und Bürger kommuniziert worden“, sagte Bundestagsfraktionsvize Michael Theurer der Deutschen Presse-Agentur. Es biete sich das Bild eines erheblichen Systemversagens, für das Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) unmittelbar die persönliche Verantwortung trage.
Linken-Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow brachte sogar eine Rücktrittsforderung ins Spiel. In einer Mitteilung kritisierte sie: „Seehofer trägt die politische Verantwortung für das desaströse Versagen der Bundesregierung.“