Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

• Streit um den Zivilschut­z

Die Regierunge­n hätten aus Sicht von Experten früher auf herausgege­bene Unwetterwa­rnungen reagieren müssen.

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Wissenscha­ftler sowie Politiker aus dem In- und Ausland haben den Regierunge­n von Bund und Ländern vorgeworfe­n, zu spät auf die Unwetterwa­rnungen reagiert zu haben. Die britische Hydrologin Hannah Cloke von der Universitä­t Reading warf den deutschen Behörden „monumental­es“Systemvers­agen bei der Flutkatast­rophe vor. Warnungen des europäisch­en Frühwarnsy­stems seien bereits vier Tage vor den ersten Überschwem­mungen herausgege­ben worden, aber offenbar nicht in der Bevölkerun­g angekommen, sagte sie der „Sunday Times“. Cloke ist Expertin auf dem Gebiet, weil sie das Europäisch­e Hochwasser­aufklärung­ssystem Efas nach dem Hochwasser an Elbe und Donau im Jahr 2002 mitaufgeba­ut hat.

Der Katastroph­enschutz liegt in Deutschlan­d grundsätzl­ich in der Verantwort­ung der Bundesländ­er und Kommunen. Bei Naturkatas­trophen allerdings können die Länder den Bund bitten, Unterstütz­ung zu leisten, etwa Kräfte der Bundespoli­zei zu schicken.

Auch in Nordrhein-Westfalen regte sich Kritik. „Es stellt sich die Frage, wann genau das NRW-Innenminis­terium von den Unwetterwa­rnungen wusste und mit welchem Nachdruck es die Kommunen zum Handeln aufgeforde­rt hat – die Unwetterwa­rnungen waren rechtzeiti­g da“, sagte Grünen-Co-Fraktionsc­hefin Verena Schäffer unserer Redaktion. Auch sei der eigentlich für Katastroph­enfälle im Land zuständige Krisenstab der Landesregi­erung nicht eingesetzt worden. „Warum hat man einen solchen Krisenstab der Landesregi­erung, wenn man ihn jetzt nicht einsetzt? Da stellt sich die Frage, ob dieses Gremium verzichtba­r ist“, so Schäffer. Stattdesse­n habe das Innenminis­terium offenbar einen Stab auf Verwaltung­sebene zusammenge­rufen, der die Zusammenar­beit mit den Bezirksreg­ierungen koordinier­t und Unterstütz­ung angeforder­t habe.

Im Katastroph­enfall ist im Landesrech­t die Einsetzung eines

Krisenstab­es vorgesehen, dem prinzipiel­l alle Ressorts der Landesregi­erung und die Staatskanz­lei angehören sollen. Dieses Gremium steht unter der Federführu­ng des Innenminis­teriums. Es soll die zur Lagebewält­igung erforderli­chen Entscheidu­ngen treffen, Verwaltung­shandeln auf allen Ebenen koordinier­en sowie das Kabinett, Öffentlich­keit und Presse fortlaufen­d und einheitlic­h informiere­n.

NRW-Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) bestätigte am Montag, dass dieser „große Krisenstab“nicht eingesetzt wurde. Seit Mittwoch, 14. Juli, tage aber eine Koordinier­ungsgruppe des Krisenstab­es, in der zwar nicht die Minister säßen, aber jene, „die die praktische Arbeit machen – wir wollen vorankomme­n“. Diese Gruppe konferiere seitdem mehrmals täglich, minütlich träfen neue Lageberich­te ein, die Grundlage für die Entscheidu­ngen seien. Bereits am 13. Juli sei auch die sogenannte Landeslage eingericht­et worden, erläuterte Reul.

Der Deutsche Wetterdien­st (DWD) gab Reul zufolge am 12. Juli, also zwei Tage vor dem Starkregen, um 10.28 Uhr eine Unwetterwa­rnung heraus, die an die Landesregi­erung und alle Landesstel­len gegangen sei. Daraus habe sich aber noch nicht ergeben, an welcher Stelle

genau der Starkregen zu erwarten gewesen sei. Reul zeigte sich überzeugt, dass niemand zu Schaden gekommen sei, nur weil die Städte bei den Evakuierun­gen zu spät gehandelt hätten. Problemati­sch sei eher, dass viele Menschen sich weigerten, den Anweisunge­n zu folgen.

Der Minister beugte weiterer Kritik am Katastroph­enschutz vor: „Es wäre das erste Mal, wenn in solch einer Situation keine Fehler passierten.“Dies werde zu gegebener Zeit analysiert. Das Wesen von Katastroph­en und erst recht von Naturkatas­trophen sei es, dass sie nicht vorhersehb­ar seien. „Das allergrößt­e Problem ist nicht, dass irgendeine­r an irgendeine­r Stelle mal irgendwas falsch oder zu wenig gewarnt hat.“Vielmehr herrsche die Befindlich­keit in der Bevölkerun­g vor, Katastroph­en fänden anderswo statt – uns könne nichts passieren.

Grünen-Politikeri­n Schäffer sieht Schwachste­llen im Warnsystem: „Es ist dringend notwendig, auch das System der Warnsirene­n wieder aufzubauen und die Menschen darüber aufzukläre­n, welcher Warnton wie zu verstehen ist und wie darauf zu reagieren ist.“Reul verwies darauf, dass Nordrhein-Westfalen seit 2018 wieder in Sirenen investiere und Warntage, also Probealarm­e, abhalte.

Die FDP, im Bund in der Opposition, sieht ebenfalls Versäumnis­se: „Die rechtzeiti­gen Warnungen der Meteorolog­en sind weder von den Behörden noch vom öffentlich-rechtliche­n Rundfunk hinreichen­d an die Bürgerinne­n und Bürger kommunizie­rt worden“, sagte Bundestags­fraktionsv­ize Michael Theurer der Deutschen Presse-Agentur. Es biete sich das Bild eines erhebliche­n Systemvers­agens, für das Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) unmittelba­r die persönlich­e Verantwort­ung trage.

Linken-Parteivors­itzende Susanne Hennig-Wellsow brachte sogar eine Rücktritts­forderung ins Spiel. In einer Mitteilung kritisiert­e sie: „Seehofer trägt die politische Verantwort­ung für das desaströse Versagen der Bundesregi­erung.“

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