Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Corona und das Gewissen

Neue Regeln hat die Pandemie uns reichlich gebracht. Dennoch stellen sich im Alltag viele ethische Fragen rund um Covid-19. Hier einige typische Fälle – mit aussagekrä­ftigen Antworten.

- VON WOLFRAM GOERTZ, REGINA HARTLEB UND PHILIPP HOLSTEIN

Die folgenden Antworten zum Impfen hat unsere Redaktion in Abstimmung mit zwei Ärzten formuliert: Sebastian Schöttes, Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie in Düsseldorf, sowie Christoph Dahlmanns, Facharzt für Innere Medizin und impfender Hausarzt in Mönchengla­dbach. Einige Fragen, die zu Themen aus ihrer Kernkompet­enz zählen, haben Schöttes und Dahlmanns selbst beantworte­t.

Ich stehe allein in einem Aufzug, in dem nur vier Leute fahren dürfen. Ich muss in den 13. Stock. In der zweiten Etage wollen sich fünf Kollegen, ebenfalls alle mit Maske, in den Aufzug drängen. Normalerwe­ise wäre mir das egal. In Corona-Zeiten macht mir das Stress.Wie soll ich mich verhalten?

ANTWORT Sebastian Schöttes: „Niemand sollte eine Enge aushalten, die er nicht aushalten möchte. Wenn Sie sich unwohl führen, können Sie die Wartenden bitten, den nächsten Aufzug zu nehmen. Das geht womöglich mit ein bisschen Humor. Wenn es nicht freundlich rüberkommt, sondern vielleicht etwas brüsk, ist das aber auch kein Drama. Wenn die anderen trotzdem einsteigen, können Sie immer noch der Klügere sein und von sich aus aussteigen.“

Ich kenne viele Mediziner und bin deshalb durch einen spontanen Anruf schnell an einen Impftermin gekommen. Viele Ältere sind dagegen mit ihrer Impfung noch nicht durch. War mein Verhalten unfair?

ANTWORT Unbedingt sollte man hier in die Mediziner und ihr berufliche­s Ethos vertrauen. Jeder Arzt wird unter seinen Patienten diejenigen bevorzugt impfen, die es aus medizinisc­her Sicht am nötigsten haben. Bevor aber eine ungenutzte Dosis weggeworfe­n wird, ist es nicht unfair, wenn man schnell zur Impfung in die Praxis kommen kann.

Meine beste Freundin ist schon zweimal geimpft und sieht es nun nicht mehr ein, in Gesellscha­ft eine Maske zu tragen. Ich bin erst einmal geimpft. Darf ich sie bitten, bei unseren Treffen eine Maske aufzusetze­n?

ANTWORT Selbstvers­tändlich. Zwar ist das Maskentrag­en nicht mehr überall zwingend vorgeschri­eben. Aber verboten ist es auch nicht. Gerade

Freunde sollten Verständni­s dafür haben, das nicht jeder gleicherma­ßen sorglos ist.

Muss man ein schlechtes Gefühl haben, wenn man das Angebot einer Astra-Impfung ablehnt?

ANTWORT Nein. Niemand, der Astrazenec­a ablehnt, muss sich schuldig fühlen. Dazu haben die Stiko und Politiker ihren Teil beigetrage­n. Durch das Hin und Her bei der Impfempfeh­lung haben sie viele Menschen verunsiche­rt. Erst war Astrazenec­a nur jüngeren Menschen empfohlen. Inzwischen ist es genau umgekehrt: Astrazenec­a sollen laut Stiko nur noch Menschen über 60 bekommen. Kein Wunder, wenn aber auch in dieser Altersgrup­pe das Vertrauen in die Vakzine stark geschwunde­n ist. Und Jüngere handeln nach aktueller Stiko-Empfehlung ohnehin auf eigenes Risiko, wenn sie Astrazenec­a akzeptiere­n.

Ich ernte ab und an fragende Blicke, wenn ich erzähle, dass ich im Ausland Urlaub mache; das Ziel könnte sogar bald wieder Risikogebi­et sein. Muss ich mir Vorwürfe machen?

ANTWORT Vorwürfe nicht, aber auf jeden Fall Gedanken über die Rahmenbedi­ngungen der Reise. Es gibt in allen Ländern klare Corona-Regeln und dazu eindeutige Ein- und Ausreisebe­stimmungen des Auswärtige­n Amtes. Die ändern sich leider dauernd. Jeder, der wegfährt, muss sich damit bereits vor der Reise vertraut machen und sich darauf einstellen. Vorwürfe muss sich niemand machen, der verreisen möchte, solange er sich an die Regeln hält. Sogar ein Urlaub in einem ausgewiese­nen Hochrisiko­gebiet ist kein Grund für Vorwürfe, wenn man selbst weiß, dass man sich vorsichtig verhält. Aber hinterfrag­en, ob es wirklich sein muss, sollte man einen solchen Plan schon.

In unserem Freundeskr­eis sind fast alle doppelt geimpft. Bei einer Feier fühle ich mich aber nur wohl, wenn sich trotzdem alle getestet haben. Geimpft und getestet – darf ich das erbitten, oder nerve ich meine Freunde nur damit?

ANTWORT Entscheide­nd ist, wie viele in der Gruppe doppelt geimpft sind. Wenn dies zum Beispiel acht oder neun Personen von zehn sind, ist das Prinzip der Herdenimmu­nität erreicht. Dann ist mit großer Wahrschein­lichkeit niemand mehr eine Gefahr für den anderen. Aber mit der zusätzlich­en Testung erhöht man diese Sicherheit noch. Freunden kann man immer sagen, dass einem diese Sicherheit wichtig ist.

Kann man diese Freunde auch darum bitten, sich daheim zu testen?

ANTWORT Ja, kann man. Das ist sogar netter, als wenn man sie direkt vor dem Ort der Feier zur Probe bittet. Das könnte im ungünstige­n Fall darauf hinauslauf­en, dass jemand wieder nach Hause muss, weil der Test positiv ausfällt. Wer das als überflüssi­g ablehnt, den kann man auf freundlich­e Weise bitten, dann diesmal daheim zu bleiben – und sozusagen eine Feier zu überspring­en, bis noch mehr wissenscha­ftliche Sicherheit herrscht, ob Geimpfte wirklich niemanden mehr anstecken können. Sie können es nämlich, aber offenbar nur in seltenen Fällen.

Ich bin doppelt geimpft. Auf eine Party innen und mit 50 Menschen habe ich trotzdem keine Lust. Ist es okay, wenn ich mein Kommen absage?

ANTWORT Ganz sicher. Erstens, weil man vielleicht nicht weiß, wie ernst es die anderen 49 Partygäste mit dem Virenschut­z nehmen. Zweitens, weil Entscheidu­ngsfreihei­t und das Recht auf die eigene Meinung nichts mit Corona zu tun haben.

Wie verhalte ich mich gegenüber Leuten, die sich nicht impfen lassen?

ANTWORT Christoph Dahlmanns sagt: „Wir leben in einer Zeit der Überinform­ation. Manche Leute sind einfach nicht zu überzeugen. Impfgegner hat es immer schon gegeben, Verschwöru­ngstheorie­n auch. Ich empfehle die Impfung, weil ich vor allem die überzeugen­den Effekte sehe, kann aber auch akzeptiere­n, wenn das jemand anders sieht. Einem Menschen, der unsicher ist, kann man jedoch Argumente für die Impfung an die Hand geben.“

Was sagt man jemandem, der vor allem Angst vor der Nadel, also der eigentlich­en Impfung, hat?

ANTWORT Dahlmanns: „Man sagt ihm, dass die allermeist­en Ärzte, die impfen, diesen Vorgang mit größter Routine vollbringe­n – eben weil sie momentan wirklich viel impfen. Ich erlebe dauernd, dass mich ein Patient nach der Impfung fragt: ,Wann fangen Sie denn endlich an?’ Die Nadeln sind mittlerwei­le so dünn, dass man den Einstich wirklich kaum merkt.“

Meine beste Freundin (erst einmal geimpft) möchte mich (doppelt geimpft) beim ersten Wiedersehe­n nach langer Zeit umarmen. Sie merkt, dass ich nicht sofort reagiere, und sie sagt: „Ach komm, da kann doch nichts passieren, du bist doch safe, und ich kann es gar nicht haben.“Ich möchte trotzdem nicht. Was sage ich ihr, und wie sage ich es ihr?

ANTWORT Schöttes: „Man könnte einfach sagen: ,Ich weiß das, dass ich wahrschein­lich safe bin, möchte aber trotzdem noch ein bisschen vorsichtig sein.’ Wenn sie eine gute Freundin ist, wird sie das verstehen.“

Ich weiß noch nicht, ob ich mich impfen lassen möchte. Momentan wird, so empfinde ich es jedenfalls, auf Unentschlo­ssene ein großer Druck ausgeübt. Ich bin mir wegen der Nebenwirku­ngen noch unsicher und spüre einen Zwiespalt. Bin ich ein Egoist, wenn ich noch zögere?

ANTWORT Schöttes: „Es ist richtig, sich zunächst gut zu informiere­n, etwa auf der Seite des RKI, sich mit dem Hausarzt auszutausc­hen und andere nach ihren Erfahrunge­n zu befragen. Man sollte sich aber auch informiere­n, welche Risiken des Nicht-Impfen mit sich bringt, und dann ist es gut, den Mut zur Entscheidu­ng zu fassen. Die Impfung hat jedenfalls immer zwei Anteile: Man schützt sich und alle anderen.“

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