Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Schneller, als die Natur erlaubt
In Laboren auf der ganzen Welt verändern Forscher gezielt das Erbgut von Viren, um die Mechanismen der Infektionswege zu ergründen. Solche Experimente sind nicht unumstritten, aber wichtig für die Forschung.
Aus welchem Winkel dieser Welt ist Sars-Cov-2 über die Menschheit gekommen? Bis heute gibt es keine eindeutige Antwort. Die von Experten mehrheitlich vertretene Variante ist eine Zoonose, der Artensprung des Virus vom Tier auf den Menschen. In dieser Theorie gelten Fledermäuse als die ersten Wirte. Sie sind bekannt als Träger vieler Virenarten und als Wirte von Coronaviren. Über einen oder mehrere Zwischenwirte könnte
Sars-Cov-2 auf sogenannten Wet-Märkten, wie sie im asiatischen Raum verbreitet sind, auf den Menschen übergesprungen sein.
Eine andere These, die sich trotz aller Gegenargumente bis heute hält, ist, dass
Sars-Cov-2 das Ergebnis eines Laborunfalls sei und versehentlich aus einer Einrichtung im chinesischen Wuhan herausgelangte. Dort wurde das Virus erstmals entdeckt. Die Stadt ist zentraler Forschungsstandort für Virologen in China.
Nach eigenen Angaben auf seiner Website beheimatet das Wuhan Institut of Virology 1500 Erregerstämme – die größte Virusbank Asiens. China dementiert diese These. Und auch amerikanische Geheimdienste kommen in einer Pressemitteilung zu dem Schluss, dass der Mensch nicht seine Hand im Spiel hatte bei der Entstehung und Verbreitung von Sars-Cov-2. Der Abschlussbericht einer Delegation der Weltgesundheitsorganisation WHO, die Anfang des Jahres für mehrere Wochen in Wuhan vor Ort war, stufte die Möglichkeit eines Laborunfalls ebenfalls als „extrem unwahrscheinlich“ein. Allerdings hielten die Chinesen auch manche Tür zu möglicherweise relevanten Daten für die WHO-Vertreter verschlossen.
Unstrittig ist: Es gibt auf der ganzen Welt Virologen, die in Sicherheitslaboren gezielt die Eigenschaften von Viren verändern. Gain-of-Function-Mutationen, kurz GOF, nennt die Wissenschaft dies. Bei einer Gain-of-Function-Mutation führt die Manipulation im Erbgut des Erregers in der Regel zur Verstärkung einer Genaktivität oder zu einer ganz neuen Funktion des Gens. Häufig führen Forscher auf diese Weise gezielt Mutationen herbei, die den Erreger pathogener werden lassen.
Warum tun Wissenschaftler so etwas? Um effiziente Therapien, Impfstoffe oder Arzneien gegen Krankheiten entwickeln zu können, muss man die Mechanismen der Ansteckung kennen. „Es geht immer um ein zielgerichtetes Eingreifen in das Erbgut, hinter dem eine klare Fragestellung steht“, erklärt Linda Brunotte. Sie ist Biologin am Institut für Virologie in Münster. Im Zentrum für Molekularbiologie der Entzündung beschäftigt sie sich selbst mit GOF-Forschung. Wohin entwickelt sich ein Erreger? Was macht einen Keim aggressiver? Was macht ihn besser übertragbar? Darauf sucht die Wissenschaft Antworten.
Um sie zu finden, müsse man der Natur einen Schritt voraus sein, so Brunotte. „Es geht darum, Sequenzen zu finden, die später als Marker für ein hohes Pandemiepotenzial identifiziert werden können“, sagt sie. Grundsätzlich seien derartige Experimente nie wahllos, sondern immer zielgerichtet: „Wir wissen, was wir erzeugen, aber kennen die Stärke nicht“, so die Biologin.
In der Vergangenheit lösten derartige Experimente mehrfach Diskussionen aus: Im Mai 2012 veröffentlichte eine Gruppe von mehrheitlich japanischen Wissenschaftlern an der Universität von Wisconsin in der Zeitschrift „Nature“einen Artikel über die Übertragung der H5N1-Vogelgrippe in der Luft. Die Gruppe hatte das Aminosäureprofil des Virus verändert und es ihm dadurch ermöglicht, sich in Säugetieren zu vermehren. Dies ermöglichte im Tierversuch mit Frettchen plötzlich die Übertragung des Virus durch Husten und Niesen. Normalerweise werden Vogelgrippeviren durch die Ausscheidungen erkrankter Tiere übertragen.
Unabhängig davon hatte der Virologe Ron Fouchier vom Erasmus Medical Center in Rotterdam zur gleichen Zeit mit ähnlichen Versuchen für Aufregung gesorgt. Er veränderte ebenfalls hochpathogene Influenzaviren vom Typ H5N1 derart, dass sie später in Tierversuchen mit Frettchen durch die Luft per Tröpfcheninfektion übertragen werden konnten. In der Wissenschaft gab es deshalb einen Aufschrei. Das von der US-Regierung geschaffene Gremium zur Abwehr bioterroristischer Anschläge forderte damals sogar die Herausgeber der Fachzeitschrift dazu auf, auf die Veröffentlichung von Detailergebnissen zu verzichten – aus Sorge vor möglichen terroristischen Nachahmern.
Natürlich ist derartige Forschung umstritten. „Dual Use Research of Concern“– DURC – nennt die Wissenschaft diesen Bereich wegen seines gespalteten Potenzials: Ebenso wie die wichtigen wissenschaftlichen Ziele zugunsten Erkrankter könnten solche hochpathogenen Keime in falschen Händen auch als Biowaffen missbraucht werden. Auch in Deutschland beschäftigen sich Experten mit der DURC-Thematik.
Die Gesellschaft für Virologie (GFV) hat eigens dazu eine Fachkommission gegründet. Linda Brunotte ist dort Mitglied. „Wir als GFV plädieren ganz klar für die Freiheit einer verantwortungsvollen Forschung“, sagt die Biologin. Für die Diskussionen und Unsicherheiten hat sie Verständnis, betont aber: In Deutschland sei DURC ein „hochregulierter Bereich“, der ausschließlich in speziellen Sicherheitslaboren und von hochqualifiziertem Personal bearbeitet werde. Und sie erklärt ausdrücklich: „Wir entwickeln reine Forschungswerkzeuge, die niemals in die Natur gelangen werden.“Hoffentlich sehen dies Wissenschaftler im Rest der Welt genauso.
„Wir wissen, was wir erzeugen, aber kennen
die Stärke nicht“
Linda Brunotte Biologin am Institut für Virologie