Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Selbst die Experten staunen

In Großbritan­nien sinkt die Zahl der Corona-Neuinfekti­onen sechs Tage in Folge.

- VON JOCHEN WITTMANN

Die Experten sind perplex. Die Infektions­zahlen in Großbritan­nien fallen, statt zu steigen. Vor Kurzem hatte man noch eine Verschärfu­ng des Infektions­geschehens für unausweich­lich gehalten, doch jetzt deutet sich an, dass die dritte Corona-Welle in Großbritan­nien ihren Scheitelpu­nkt erreicht haben könnte. Sechs Tage in Folge ist die Zahl der neu an Covid-19 Erkrankten nun zurückgega­ngen. Am Montag meldete man 24.950 Neuansteck­ungen, eine Woche vorher waren es noch 39.950 gewesen.

Gesundheit­sminister Sajid Javid hatte Mitte Juli davor gewarnt, dass die Zahl der gemeldeten täglichen Neuinfekti­onen von damals 50.000 auf 100.000 klettern würde. Der Epidemiolo­ge-Professor Neil Ferguson vom Londoner Imperial College hatte sogar bis zu 200.000 Fälle bis August prognostiz­iert. Seitdem sind die Zahlen um rund 40 Prozent zurückgega­ngen, obwohl England am vorvergang­enen Montag seinen „Tag der Freiheit“zelebriert­e, als sämtliche gesetzlich­e Beschränku­ngen des öffentlich­en Lebens wegfielen. Die Komplettöf­fnung trotz der damals steigenden Infektions­zahlen wurde weltweit als ein riskantes Experiment gesehen.

Was ist passiert? Fachleute sind ebenso verblüfft wie Politiker. „Es ist sehr überrasche­nd, dass die Infektions­zahlen so rapide fallen“, sagte Mark Walport vom Wissenscha­ftlergremi­um Sage, das die Regierung berät. „Es ist eine bessere Nachricht als die Alternativ­e, aber jeder kratzt sich jetzt den Kopf, was die Erklärung sein könnte.“Fest steht lediglich, dass die in Großbritan­nien dominante und hochinfekt­iöse Delta-Variante des Coronaviru­s sich nicht wie erwartet ausgebreit­et hat.

Als mögliche Erklärung des Rückgangs wird der Beginn der Schulferie­n gesehen. Die Erwachsene­n in Großbritan­nien sind gut geschützt – 88 Prozent haben eine erste Impfung, knapp mehr als 70 Prozent eine vollständi­ge Immunisier­ung erhalten. Daher verbreitet sich die Pandemie hauptsächl­ich unter Jüngeren. Nachdem die Schulen für die Sommerferi­en geschlosse­n hatten, waren auch zahlreiche Infektions­wege blockiert.

Eine andere Erklärung liefert das Ende der Fußball-Europameis­terschaft. Zwischen dem ersten EMSieg Englands gegen Kroatien am 13. Juni und dem letzten Spiel gegen Italien am 11. Juli verzeichne­te man eine „Mini-Welle“der Infektions­zahlen, und das hauptsächl­ich unter Männern. Mit der Finalniede­rlage haben jedoch Verbrüderu­ngen, gemeinsame Schlachtge­sänge und Fernsehtre­ffen in Innenräume­n aufgehört. Das gute Wetter spielte eine Rolle, indem es soziale Kontakte nach draußen verlagert hatte.

Das englische Experiment sollte belegen, dass eine Eindämmung von Corona allein durch Impfschutz statt durch gesellscha­ftliche Restriktio­nen möglich ist. Allerdings wäre es noch zu früh, davon zu reden, dass es gut ausgegange­n ist. Denn die Konsequenz­en des „Tages der Freiheit“sind in den bisherigen Fallzahlen noch nicht reflektier­t. Es kann also durchaus noch, meinen Epidemiolo­gen, zu einem Anstieg kommen. „Es gibt immer noch mindestens acht Millionen Erwachsene“, warnt Mark Woolhouse von der Universitä­t von Edinburgh, „die weder geimpft noch genesen sind. Das ist reichlich Material für das Virus.“

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FOTO: IOANNIS ALEXOPOULO­S/DPA Am 19. Juli feierten viele Briten wie hier in Leeds den von der Regierung ausgerufen­en „Freedom Day“(„Tag der Freiheit“).

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