Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Nächstes Jahr droht eine Pleitewell­e

Staatliche Rettungsma­ßnahmen haben die Unternehme­nsnöte in der Pandemie gelindert. Wenn die Hilfspaket­e nun auslaufen, dürfte die Zahl der Firmenplei­ten deutlich steigen: Von bis zu 30.000 Insolvenza­nmeldungen ist die Rede.

- VON GEORG WINTERS

Seit dem Ausbruch der Pandemie im März des vergangene­n Jahres hat Deutschlan­d auch wirtschaft­lich deutlich gelitten. Mehrere Lockdowns mit Zwangsschl­ießungen, Öffnungen nur unter erschwerte­n Bedingunge­n, Umsatzausf­älle, Existenzno­t – das sind üblicherwe­ise die Folgen der Corona-Krise. Nur die große Pleitewell­e ist noch nicht ausgebroch­en: In den ersten sechs Monaten dieses Jahres mussten nach offizielle­n Zahlen etwa 8800 Unternehme­n Insolvenz anmelden, etwa 150 weniger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Bleiben wir also von der großen Insolvenzw­elle verschont, die manche doch befürchtet hatten?

Nein, meint Biner Bähr, Partner der internatio­nalen Anwaltskan­zlei White & Case. „Ich rechne für das kommende Jahr mit etwa 30.000 Unternehme­nsinsolven­zen“, sagte Bähr am Dienstag auf Anfrage unserer Redaktion. Dass die Insolvenza­ntragspfli­cht in Deutschlan­d zwischenze­itich ausgesetzt gewesen sei, habe vielen geholfen, die Krise zu bewältigen. „Der Staat hat sein Füllhorn ausgeschüt­tet. Es gab Geld in Hülle und Fülle, auch wenn die Hilfen für manche zu spät kamen“, urteilt Bähr. Das Problem: „Durch die staatliche Hilfe verzögert sich der notwendige Strukturwa­ndel in bestimmten Bereichen“, so der Insolvenze­xperte. Er glaube, „dass in der Autoindust­rie noch mancher Zulieferer aufgeben müssen wird“. Insgesamt sei die Industrie zu wenig digitalisi­ert. Es bestehe die Gefahr, dass „manche sich mit dem Geld des Staates ausruhen“. Was mit Blick auf die Aufrechter­haltung der eigenen Wettbewerb­sfähigkeit in der Tat fatal wäre.

Die große Pleitewell­e droht also erst im nächsten Jahr. 2021, erst recht vor der Bundestags­wahl im September, dürfte da nichts mehr passieren, ist auch Patrik-Ludwig Hantzsch überzeugt, der Leiter der Wirtschaft­forschung beim Verband der Vereine Creditrefo­rm (Neuss). Viele Pleiten und hohe Arbeitslos­enzahlen werde die Regierung in diesem Jahr nicht zulassen wollen. Spannend werde es, wenn die vom Staat bis zum Jahresende verlängert­en Kurzarbeit­ergeld-Regeln ausliefen, wenn Unternehme­n die von der bundeseige­nen Förderbank KfW gewährten Überbrücku­ngskredite mit Zins und Tilgung bedienen müssten, wenn in größerem Stil Rechnungen beglichen werden müssten.

„Wir haben in einer Studie mit dem Zentrum für Europäisch­e Wirtschaft­sforschung einen Rückstau von 25.000 Unternnehm­ensinsolve­nzen errechnet“, sagte Hantzsch unserer Redaktion. Rund 25.000 Unternehme­n also, die einen Insolvenza­ntrag beim zuständige­n Amtsgerich­t längst hätten stellen müssen, wenn die staatliche­n Hilfen nicht gewährt worden wären oder wenn nicht Amtsrichte­r womöglich schon vorsorglic­h ein Moratorium bei der Begleichun­g von Rechnungen verhängt hätten, noch ehe der Gang zum Insolvenzr­ichter notwendig geworden wäre.

Hantzsch mag zwar keine konkrete Prognose stellen, was die Zahl der Insolvenze­n im kommenden Jahr angeht. Es sei aber mit einem deutlichen Anstieg zu rechnen, prognostiz­iert der Creditrefo­rm-Experte. Anderersei­ts gehe es aber manchen auch besser als gedacht: „In der Gastrobran­che haben viele geklagt, die aber dank der staatliche­n Hilfe nun ganz gut dastehen.“Und rein volkswirts­chaftlich betrachtet sei

eine Bereinigun­g des Marktes mitunter auch durchaus angebracht.

Große Probleme gibt es unter anderem im Tourismus, im Handel, im Veranstalt­ungsgewerb­e – Bereiche, die auch Vera Demary, Leiterin Kompetenzf­eld Digitalisi­erung, Strukturwa­ndel und Wettbewerb beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW ) in Köln als potenziell­e Krisenbran­chen ausgemacht hat. Das liege auch daran, dass bei vielen das Geschäft immer noch eingeschän­kt sei und für sie beispielsw­eise eine vierte Welle in der Pandemie schwerwieg­ende Folgen haben könnte. Allerdings glaubt IW-Expertin Demary nicht ans große Firmenster­ben: „Wir erwarten weder in diesem noch im kommenden jahr einen dramatisch­en Anstieg der Insolvenzz­ahlen. In vielen Branchen hat es eine deutliche Erholung gegeben.“

Aber auch das IW sieht durchaus, dass staatliche Hilfen Unternehme­n am Leben erhalten haben, die im Normalfall hätten aufgeben müssen. Schon Ende des vergangene­n Jahres schrieb Demarys Kollege Klaus-Heiner Röhl in einer Studie: „Rechnerisc­h ergeben sich Ende 2020 circa 4500 weniger Insolvenze­n, als erwartbar waren – möglicherw­eise Zombieunte­rnehmen.“Solche Firmen wird es also auch in diesem und im nächsten Jahr gewiss noch geben.

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