Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Nächstes Jahr droht eine Pleitewelle
Staatliche Rettungsmaßnahmen haben die Unternehmensnöte in der Pandemie gelindert. Wenn die Hilfspakete nun auslaufen, dürfte die Zahl der Firmenpleiten deutlich steigen: Von bis zu 30.000 Insolvenzanmeldungen ist die Rede.
Seit dem Ausbruch der Pandemie im März des vergangenen Jahres hat Deutschland auch wirtschaftlich deutlich gelitten. Mehrere Lockdowns mit Zwangsschließungen, Öffnungen nur unter erschwerten Bedingungen, Umsatzausfälle, Existenznot – das sind üblicherweise die Folgen der Corona-Krise. Nur die große Pleitewelle ist noch nicht ausgebrochen: In den ersten sechs Monaten dieses Jahres mussten nach offiziellen Zahlen etwa 8800 Unternehmen Insolvenz anmelden, etwa 150 weniger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Bleiben wir also von der großen Insolvenzwelle verschont, die manche doch befürchtet hatten?
Nein, meint Biner Bähr, Partner der internationalen Anwaltskanzlei White & Case. „Ich rechne für das kommende Jahr mit etwa 30.000 Unternehmensinsolvenzen“, sagte Bähr am Dienstag auf Anfrage unserer Redaktion. Dass die Insolvenzantragspflicht in Deutschland zwischenzeitich ausgesetzt gewesen sei, habe vielen geholfen, die Krise zu bewältigen. „Der Staat hat sein Füllhorn ausgeschüttet. Es gab Geld in Hülle und Fülle, auch wenn die Hilfen für manche zu spät kamen“, urteilt Bähr. Das Problem: „Durch die staatliche Hilfe verzögert sich der notwendige Strukturwandel in bestimmten Bereichen“, so der Insolvenzexperte. Er glaube, „dass in der Autoindustrie noch mancher Zulieferer aufgeben müssen wird“. Insgesamt sei die Industrie zu wenig digitalisiert. Es bestehe die Gefahr, dass „manche sich mit dem Geld des Staates ausruhen“. Was mit Blick auf die Aufrechterhaltung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit in der Tat fatal wäre.
Die große Pleitewelle droht also erst im nächsten Jahr. 2021, erst recht vor der Bundestagswahl im September, dürfte da nichts mehr passieren, ist auch Patrik-Ludwig Hantzsch überzeugt, der Leiter der Wirtschaftforschung beim Verband der Vereine Creditreform (Neuss). Viele Pleiten und hohe Arbeitslosenzahlen werde die Regierung in diesem Jahr nicht zulassen wollen. Spannend werde es, wenn die vom Staat bis zum Jahresende verlängerten Kurzarbeitergeld-Regeln ausliefen, wenn Unternehmen die von der bundeseigenen Förderbank KfW gewährten Überbrückungskredite mit Zins und Tilgung bedienen müssten, wenn in größerem Stil Rechnungen beglichen werden müssten.
„Wir haben in einer Studie mit dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung einen Rückstau von 25.000 Unternnehmensinsolvenzen errechnet“, sagte Hantzsch unserer Redaktion. Rund 25.000 Unternehmen also, die einen Insolvenzantrag beim zuständigen Amtsgericht längst hätten stellen müssen, wenn die staatlichen Hilfen nicht gewährt worden wären oder wenn nicht Amtsrichter womöglich schon vorsorglich ein Moratorium bei der Begleichung von Rechnungen verhängt hätten, noch ehe der Gang zum Insolvenzrichter notwendig geworden wäre.
Hantzsch mag zwar keine konkrete Prognose stellen, was die Zahl der Insolvenzen im kommenden Jahr angeht. Es sei aber mit einem deutlichen Anstieg zu rechnen, prognostiziert der Creditreform-Experte. Andererseits gehe es aber manchen auch besser als gedacht: „In der Gastrobranche haben viele geklagt, die aber dank der staatlichen Hilfe nun ganz gut dastehen.“Und rein volkswirtschaftlich betrachtet sei
eine Bereinigung des Marktes mitunter auch durchaus angebracht.
Große Probleme gibt es unter anderem im Tourismus, im Handel, im Veranstaltungsgewerbe – Bereiche, die auch Vera Demary, Leiterin Kompetenzfeld Digitalisierung, Strukturwandel und Wettbewerb beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW ) in Köln als potenzielle Krisenbranchen ausgemacht hat. Das liege auch daran, dass bei vielen das Geschäft immer noch eingeschänkt sei und für sie beispielsweise eine vierte Welle in der Pandemie schwerwiegende Folgen haben könnte. Allerdings glaubt IW-Expertin Demary nicht ans große Firmensterben: „Wir erwarten weder in diesem noch im kommenden jahr einen dramatischen Anstieg der Insolvenzzahlen. In vielen Branchen hat es eine deutliche Erholung gegeben.“
Aber auch das IW sieht durchaus, dass staatliche Hilfen Unternehmen am Leben erhalten haben, die im Normalfall hätten aufgeben müssen. Schon Ende des vergangenen Jahres schrieb Demarys Kollege Klaus-Heiner Röhl in einer Studie: „Rechnerisch ergeben sich Ende 2020 circa 4500 weniger Insolvenzen, als erwartbar waren – möglicherweise Zombieunternehmen.“Solche Firmen wird es also auch in diesem und im nächsten Jahr gewiss noch geben.