Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Zwischen den Fronten
Die Kurden werden von zwei Seiten angegriffen: aus der Türkei und aus dem Iran. In ihren Gebieten im Norden des Irak wird die Lage immer verzweifelter. Dass sie stets auf Eigenständigkeit pochten, rächt sich jetzt.
Kurdistan liegt unter Beschuss – von allen Seiten. Der Iran greift die autonomen Kurdengebiete im Nordirak vom Osten her an, die Türkei vom Norden. „Abrechnung“geben beide Nachbarstaaten als Grund an: Abrechnung mit „ihren“Kurden, die im Irak Unterschlupf gefunden haben. Teheran zielt zum wiederholten Mal mit Raketen und Drohnen auf Stützpunkte der iranisch-kurdischen Oppositionsgruppen.
Sie werden von einem Stützpunkt der iranischen Revolutionsgarden, der Militärbasis Hamsa Sajid al-Schuhada, im kurdischen Teil des Iran angegriffen.
Die Eliteeinheit der iranischen Streitkräfte, die direkt dem obersten Führer des Landes, Ajatollah Ali Chamenei, untersteht, spricht in einer Erklärung von „separatistischen, anti-iranischen Terrorgruppen“, die derzeit angegriffen werden und in den irakisch-kurdischen Provinzen Erbil und Suleimanija Unterschlupf gefunden hätten. Der Bürgermeister der Stadt Koja in der Provinz Erbil sagte dem kurdischen Fernsehsender Rudaw, dass nicht nur das Büro der Kurdischen Demokratischen Partei des Iran Ziel gewesen sei, sondern auch ein Lager, das Geflüchtete aus den iranischkurdischen Gebieten beherbergt.
Seit dem Beginn der Demonstrationen im Iran lässt Teheran immer wieder Stellungen der insgesamt drei iranisch-kurdischen Oppositionsparteien angreifen, die sich im Irak befinden. Die Ajatollahs werfen den Exilgruppen vor, die landesweiten Proteste gegen die Regierung und das islamische Herrschaftssystem zu schüren. In der Tat unterstützen irakisch-kurdische Organisationen die seit dem Tod der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini Mitte September anhaltenden Proteste im Iran und prangern die massive Gewalt gegen Protestierende
an. Beobachter in Erbil sind sich allerdings uneins, ob die Unterstützung über die Gewährung von Unterschlupf für die iranischen Kurden hinausgeht oder ob auch Waffen und technische Geräte für den Widerstand über die Grenze geschmuggelt werden.
Auch die Türkei hat immer wieder Stellungen der von ihr als Terrororganisation klassifizierten PKK, der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei, im Irak angegriffen. Dass jetzt beide Nachbarstaaten gleichzeitig operieren, ist neu. Neu ist auch, dass die türkische Armee neben der PKK deren syrische Tochter YPG ebenfalls ins Visier nimmt. Die mit den USA im Kampf gegen den IS verbündete Guerillaorganisation genoss bislang einen bestimmten Schutz vor türkischen Angriffen. Das Verteidigungsministerium in Ankara macht jedoch die YPG für die Bombenexplosion in Istanbul verantwortlich.
Die Luftangriffe jetzt folgen nur wenige Tage danach, während die Ermittlungen noch laufen. Bisher wurden insgesamt 50 Personen verhaftet. Die beiden Kurdenorganisationen, die Erdogan als Terroristen bezeichnet, streiten eine Beteiligung ab und unterstellen der Türkei, mit der Anschuldigung einen Vorwand für einen Militäreinsatz in Nordsyrien und dem Irak geschaffen zu haben. Die Offensive ist so massiv wie nie zuvor. Türkische Raketen gehen in Nordsyrien nieder, in Aleppo, Rakka und Hasakah, auf die Grenzregion zum Irak im Süden der Türkei, auf die Kandil-Berge im Osten der irakisch-kurdischen Autonomieprovinz Suleimanija und auf Sindschar im Westen des Irak. Allein am Dienstag dieser Woche wurden 45 Orte angegriffen. Die türkische Armee nennt die Operation „Klauenschwert“, und Recep Tayyip Erdogan, der türkische Präsident, schließt selbst die Entsendung von Bodentruppen nicht aus. Das US-Generalkonsulat in Erbil in der irakischen Kurdenregion verschickt schon seit Tagen Warnungen an die Landsleute, den Nordirak zu meiden oder von dort abzureisen.
Die Kurden im Nordirak sind in einer verzweifelten Situation. Nie hätten die gut fünf Millionen Einwohner der Autonomiegebiete geglaubt, dass die irakische Hauptstadt Bagdad einmal sicherer sein könnte als ihre Region. Immer galten die drei Provinzen Erbil, Suleimanija und Dohuk als sicherer Hafen im Meer des Terrors und des Krieges im Rest des Landes. Erbil war auf der Sicherheitskarte grün, Bagdad rot.
Die Regionalregierung tat alles, um den Terror draußen zu halten. Strenge Kontrollen an den Landgrenzen und am Flughafen schützten lange vor Bomben und Sprengsätzen. Der Stolz der Kurden waren vor allem ihre Sicherheitskräfte. Die Peschmerga wurden zum Symbol Kurdistans. Zahlreiche Militärberater aus aller Welt bildeten die ehemaligen kurdischen Freiheitskämpfer zu AntiTerror-Kämpfern aus, rüsteten sie gegen die Dschihadisten des IS, der bis 2017 im Nordirak sein Unwesen trieb und immer noch Schläferzellen dort unterhält.
Doch gegen konventionelle Armeen wie die türkische oder iranische sind die Peschmerga machtlos. Der Ruf nach einem Eingreifen der irakischen Armee wird lauter. Doch die neue Regierung in Bagdad hat bislang weder auf die Angriffe aus der Türkei noch auf die aus dem Iran reagiert. Der Grund ist offensichtlich: Stets haben die Kurden im Nordirak auf ihre Autonomie gepocht. Die beiden alles dominierenden Familien des Landesteils, die Barzanis im Westen und die Talabanis im Osten, haben unterschiedliche Bindungen. Die Barzanis sind mit der Türkei, die Talabanis dagegen mit dem Iran verbunden. Wie stark ihre politischen Verflechtungen sind, darüber schwieg man sich aus. Dass die langjährigen „Freundschaften“nun auf dem Prüfstand stehen, angesichts der Zerstörungen, die die Angriffe in Irak-Kurdistan verursachen, versteht sich von selbst.
Gegen Angriffe wie derzeit sind die ruhmreichen kurdischen Peschmerga
machtlos