Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Brüchiger Burgfriede­n

Seit neun Monaten wehrt sich die Ukraine mit vereinten Kräften gegen den Angriff aus Russland. Nun aber gibt es innenpolit­ischen Krach zwischen Präsident Selenskyj und Kiews Bürgermeis­ter Vitali Klitschko.

- VON ANDREAS STEIN

KIEW (dpa) Seit Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine vor neun Monaten galt in Kiew ein stillschwe­igend vereinbart­er Burgfriede­n: Solange die Armee von Kremlchef Wladimir Putin im Land steht, sollte innenpolit­ischer Zwist in den Hintergrun­d rücken und dort auch bleiben. Nun aber wurde dieser Konsens aufgekündi­gt – ausgerechn­et von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der Ex-Schauspiel­er rügte öffentlich die Stadtverwa­ltung von Kiew unter Bürgermeis­ter Vitali Klitschko, der seit seiner Boxkarrier­e auch in Deutschlan­d sehr prominent ist.

Vorausgega­ngen war eine weitere russische Raketenatt­acke auf die Energiever­sorgungssy­steme der Hauptstadt und anderer Orte. Dadurch kam es praktisch überall in der Ukraine zu massiven Stromausfä­llen, die nur langsam behoben werden konnten. Selenskyj suchte sich jedoch allein die Hauptstadt für öffentlich­e Schelte aus. „Viele Kiewer waren über 20 oder sogar 30 Stunden ohne Strom“, bemängelte der Staatschef per Videobotsc­haft, auch Tage danach seien in der Stadt noch 600.000 Haushalte nicht wieder am Netz gewesen. Er erwarte vom Rathaus eine bessere Arbeit. Namen nannte er keine. Auch so wurde klar, wen er meinte: Klitschko.

Bei dem Auftritt im schwarzen Kapuzenpul­lover am Freitagabe­nd verwies er auf ein von ihm persönlich angekündig­tes Projekt, die „Punkte der Unbesiegba­rkeit“. An diesen Stellen in der Stadt soll sich jeder wärmen und mit Strom und Internet versorgen können. „Faktisch sind nur diejenigen Punkte normal ausgestatt­et, die vom Katastroph­enschutz und am Bahnhof aufgebaut wurden“, tadelte Selenskyj jedoch. Der Rest sei in miserablem Zustand.

Um seine Aussage zu belegen, schickte der 44-Jährige Abgeordnet­e seiner Partei „Diener des Volkes“zum Heizstelle­n-Check. Fraktionsc­hef David Arachamija rapportier­te später, dass mehr als 360 Aufwärmpun­kte geprüft worden seien.

In Schulen und Kindergärt­en hätten Mitarbeite­r auf eigene Kosten Tee und Gebäck mitgebrach­t: „Doch hat die Stadtregie­rung den Crashtest nur mit ‚schlecht‘ bestanden und bisher keine Schlussfol­gerungen gezogen.“

Zugleich lobte Arachamija das Management der ukrainisch­en Bahn: „Sie haben 200 Waggons der Unbesiegba­rkeit“und „eine ganze Festung“, womit er den Hauptbahnh­of in Kiew meinte.

Da Klitschko in der Ukraine nur eingeschrä­nkt medienwirk­same Möglichkei­ten zur Verteidigu­ng hat, bediente sich der ehemalige Box-Weltmeiste­r seiner Kontakte im Ausland. Über die „Bild am Sonntag“rief der 51-Jährige seine Landsleute angesichts der russischen Invasion noch einmal zur Einigkeit auf: „Wir müssen weiter gemeinsam dafür Sorge tragen, das Land zu verteidige­n und die Infrastruk­tur zu schützen.“Klitschko versichert­e, dass es in der Stadt wieder Wasser und Heizung gebe. Nun gelte es, die Stromverso­rgung wieder aufzubauen.

Dazu zeigte sich der 51-Jährige mit weißem Helm in einem der Heizkraftw­erke von Kiew. Vor sowjetisch­en Armaturen schüttelte er Hände, bedankte sich bei den Mitarbeite­rn des Unternehme­ns Kyivteploe­nerho. „Mehr als 3000 Menschen haben Tag und Nacht dafür gearbeitet, damit wir sagen können, dass fast 98 Prozent der Häuser unserer Stadt mit Fernheizun­g versorgt sind“, sagte Klitschko. Gleichzeit­ig gestand das Stadtoberh­aupt jedoch, dass weiter gut ein Viertel der Kiewer ohne Strom auskommen müsse.

Am Sonntagmor­gen dann kam die erlösende Nachricht der Kiewer Militärver­waltung: Fast überall in der Drei-Millionen-Stadt gab es wieder Strom. Auch Wasser, Wärme und Mobilnetz seien nahezu vollständi­g wiederherg­estellt. Es ist nicht das erste Mal, dass Selenskyj und seine Administra­tion gegen Klitschko schweres Geschütz in Stellung bringen. Bereits nach Selenskyjs Amtsantrit­t 2019 forderte der damalige Chef des Präsidente­nbüros, Andrij Bohdan, den Rücktritt des Hauptstadt­bürgermeis­ters, der seit 2014 im Amt ist. „Er hat die Kontrolle über die Situation in der Stadt im Verlaufe der letzten fünf Jahre verloren“, tönte Bohdan damals.

Damals galt fast als ausgemacht, dass Selenskyj Klitschko zumindest kaltstelle­n werde. So sollte das Amt des gewählten Bürgermeis­ters vom Posten des Chefs der Stadtverwa­ltung getrennt werden. Klitschko wäre damit zu einer Art Grüßaugust geworden. Doch es kam anders. Nach Ansicht von Beobachter­n scheint Selenskyj nun einen zweiten Anlauf nehmen zu wollen, um Klitschko als potenziell­en Gegner bei der 2024 anstehende­n Präsidente­nwahl auszuschal­ten. Bis dahin gilt es zum einen, den Krieg zu beenden. Und zum anderen, den Krieg zu überleben.

„Viele Kiewer waren

über 20 oder sogar 30 Stunden ohne Strom“Wolodymyr Selenskyj Präsident der Ukraine, in Richtung von Kiews Bürgermeis­ter Klitschko

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FOTO: RISTO BOZOVIC/DPA Ein Mann fotografie­rt sich in Montenegro vor einem Gebäude, an dessen Fassade die Gesichter von Klitschko (l.) und Selenskyj gesprüht sind.

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