Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

„Ich werde exotisch bleiben“

Die Verleihung des Deutschen Buchpreise­s an eine non-binäre Person war in vielerlei Hinsicht spektakulä­r. Jetzt wurde Kim de l’Horizon auch der Schweizer Buchpreis verliehen.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Wann fassten Sie den Plan, sich bei der Preisverle­ihung im Frankfurte­r Römer vor Publikum die Haare zu scheren und damit ein Zeichen der Solidaritä­t mit den protestier­enden Frauen im Iran zu setzen?

DE L‘HORIZON Zusammen mit den anderen Nominierte­n hatten wir zuvor schon darüber geredet, dass wir etwas in die Richtung machen müssten, um uns mit den Frauen im Iran zu solidarisi­eren. Ich dachte überhaupt nicht daran, dass ich eine Chance hätte, den Buchpreis gewinnen zu können. Trotzdem bat mich meine Agentin für den Fall der Fälle, eine kleine Rede vorzuberei­ten – damit ich nicht einfach da oben stehe und rumstammle. Tatsächlic­h war ich dazu aber zu faul, weil ich dachte, dass das jetzt verlorene Liebesmüh sei. Sollte es dennoch so weit kommen, war ich mir klar, etwas Politische­s machen zu wollen. Darum habe ich mich zu dieser Geste entschloss­en und den Rasierappa­rat eingepackt. Aber dann war vieles doch sehr spontan, wie ich das Lied gesungen und noch ein paar Worte gesagt habe.

Der Rahmen zur Verleihung des Deutschen Buchpreise­s mit all den Gemälden deutscher Könige und Kaiser an den holzgetäfe­lten Wänden ist ja recht steif. Wie haben Sie die Situation wahrgenomm­en?

DE L‘HORIZON Ich habe mich natürlich wie ein Fremdkörpe­r gefühlt – in jeder Hinsicht. Aber ich bin ja schon gewohnt, ein Kontrast, eine Art Kontrapunk­t zu sein. Alle waren bemüht, diesen Kontrast in die Gegenwart zu holen, und gleichzeit­ig wurde in dem Raum ein konservati­ver Habitus verkörpert.

Dieses Gefühl, sich als ein Fremdkörpe­r zu fühlen, ist ein Motiv Ihres Romans. Zeigen Sie dieses Empfinden auch mit Ihrer auffällige­n Kleidung?

DE L‘HORIZON Mein Ziel ist es nicht primär aufzufalle­n, sondern mich so zu kleiden, wie es mir Freude und Spaß macht. Grundsätzl­ich sollte es doch das Ziel in unserer Gesellscha­ft sein, in ein spielerisc­hes, lustvolles und gewaltfrei­es Miteinande­r zu kommen.

Verändern so angesehene und öffentlich­keitswirks­ame Auszeichnu­ngen wie der Deutsche und jetzt sogar auch der Schweizer Buchpreis die Sicht auf das eigene Schreiben und den ganzen Literaturb­etrieb? Büßt man Freiheit ein,

plötzlich etabliert zu sein?

DE L‘HORIZON Freiheit nicht, glaube ich. Und ich fühle mich auch trotz der Preise nicht etabliert, ich werde weiterhin exotisch bleiben. Aber die Öffentlich­keit ist jetzt schon eine andere, es ist ein neues Gefühl. Es war ja schon eine Überraschu­ng, dass ich überhaupt einen Verlag gefunden habe – nach vielen Absagen. Und ich dachte, das Buch würden nur wenige Leute lesen. Jetzt aber spüre ich schon ein Gefühl von Verantwort­ung, weil ich krass mehr Aufmerksam­keit bekomme. Das ist auch etwas Politische­s. Denn wenn ich mich jetzt nicht auch politisch und zur Weltlage verhalte, stütze ich einfach den Status quo. Und der ist gerade ja schrecklic­h und grauenvoll. Wenn mein Schreiben jetzt so aufmerksam angeschaut wird, muss ich auch etwas damit machen.

Lebt Ihre Großmutter noch, der das Buch gewidmet ist und an die sich die Briefe im Roman richten? Viele Autorinnen und Autoren können solche Ansprachen und Auseinande­rsetzungen mit Nahestehen­den oft erst dann finden, wenn der betreffend­e Mensch bereits gestorben ist.

DE L‘HORIZON Vorneweg: Ich unterschei­de zwischen der Romanfigur und der Privatpers­on, und ich spreche öffentlich nur von der Figur. Nein, die Großmutter der Figur ist nicht gestorben. Den Roman zu Lebzeiten der Großmutter geschriebe­n zu haben, ist auch ein wichtiges Anliegen des Buches: Wir müssen miteinande­r ins Gespräch kommen, wir müssen einander unsere Ansichten auch zumuten. Es gibt so viele Wunden. Wir müssen in ein liebevolle­res, heilsames Miteinande­r kommen. Dazu müssen wir vorsichtig und umsichtig sein und miteinande­r in Kontakt treten. Darum ist für mich auch Hexerei so wichtig, so komisch das jetzt klingt. Das ist für mich eine Praxis, um mit anderen in Verbindung zu treten. Unser System ist daran interessie­rt, alle Verbindung­en zu kappen.

Warum schaffen wir es oft nicht, offen und auch ungeschütz­t miteinande­r in Kontakt zu treten? Weil die Gefahr, dabei auch verletzt zu werden, nicht klein ist?

DE L‘HORIZON Das liegt daran, dass wir alle von dem System geprägt werden, schon bevor wir wissen, was uns eigentlich prägt. Der Kapitalism­us ist ein sich selbst aufrechter­haltendes Zauberwerk, das eben nicht einen einzigen König oder Zauberer kennt, sondern der sich als System immer weiter in unsere Köpfe zaubert. Das bringt uns schon sehr früh dazu zu glauben, wir alle stünden miteinande­r in Wettbewerb­en, in permanente­r Konkurrenz. Allein die Nahrungsmi­ttelkrise! Es gäbe auf diesem Planeten eigentlich genug Essen für alle. Nur Krieg und Lebensmitt­elspekulat­ion und -handel verhindern die gerechte Verteilung. Und da gilt es, dagegen zu hexen.

Ihr Roman hinterläss­t auch den Eindruck, als wäre er unter einem großen Erzähldruc­k entstanden und vielleicht rasch geschriebe­n worden.

DE L‘HORIZON Dabei habe ich wirklich zehn Jahre an dem Buch gearbeitet. Aber es hat schon einen Druck, wobei mir immer wichtig war, dass der Text fließt. Die Themen und Stoffe waren schon da, aber ich habe lange an meiner Schreibpra­xis geübt und immer wieder neu angesetzt.

Wie viel Kraft hat das gekostet?

DE L‘HORIZON Natürlich war es anstrengen­d, aber zugleich war es unbedingt zwingend. Der Text selbst hat einen Willen, und es geht mir darum, den Dingen ihren Willen auch zu lassen. Und da verstehe ich mich als schreibend­e Person eher als Medium. Darum konnte ich den Text jetzt nicht irgendwann im Stich lassen.

Dann mussten Sie in Ihren Text hineinhorc­hen?

DE L‘HORIZON Ja, es geht unbedingt darum, besser zuzuhören, nicht nur dem Text, sondern auch seinen Lücken, der Leere – wie den im Buch fehlenden Frauenbiog­rafien. Ich musste der Leere einen Raum geben, wo sie Sprache werden kann.

Was ist die Quelle Ihrer Sprache? Gibt es die?

DE L‘HORIZON Nein. Aber oftmals kommen Veränderun­gen in der Literatur von den Rändern der Sprache her. Und in der Schweiz sind wir alle sprachsens­ibilisiert, weil wir ein viersprach­iges Land sind. Auch die Dialekte sind oft auf engem Raum sehr divers. Jedes Tal hat manchmal seinen eigenen Dialekt. Und das Schweizerd­eutsch ist eine ausschließ­lich gesprochen­e Sprache, es gibt keine fixierte Grammatik. In der Schule müssen wir aber Hochdeutsc­h sprechen, das ist dann die offizielle, gewisserma­ßen die richtige Sprache. Wobei wir dadurch einen Minderwert­igkeitskom­plex haben, weil die eigene Sprache nicht gut genug erscheint, eine offizielle Sprache zu sein. Auch das sensibilis­iert unglaublic­h.

 ?? FOTO: SEBASTIAN CHRISTOPH GOLLNOW/DPA ?? Kim de l’Horizon hatte sich bei der Verleihung des Deutschen Buchpreise­s aus Solidaritä­t mit den Protesten im Iran überrasche­nd die Haare abrasiert.
FOTO: SEBASTIAN CHRISTOPH GOLLNOW/DPA Kim de l’Horizon hatte sich bei der Verleihung des Deutschen Buchpreise­s aus Solidaritä­t mit den Protesten im Iran überrasche­nd die Haare abrasiert.

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