Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Heilende Kunst in Berlin

Ein Besuch in der Hauptstadt lohnt sich immer – auch wegen der zahlreiche­n Museen. Ein Rundgang durch die großen aktuellen Ausstellun­gen der Hauptstadt.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

DÜSSELDORF „Yoyi“nennen die Mitglieder des indigenen Volkes der Tiwi im Norden von Australien ihre zeremoniel­len Zusammenkü­nfte. Es wird getanzt und gesungen, gefeiert und getrauert. Die Wunden der Vergangenh­eit werden geheilt, die Narben der Gegenwart behandelt. „Yoyi“heißt jetzt auch eine Ausstellun­g im Berliner Martin-GropiusBau, bei der sich alles um Fürsorge, Reparatur und Heilung dreht, um eine kritische Sicht auf gesellscha­ftliche Missstände, einen kreativen Aufruf zur Veränderun­g menschlich­er Lebensweis­en.

Über zwei Dutzend internatio­nal agierende Künstlerin­nen und Künstler bringen sich mit ihren Meinungen und Materialie­n ein. Klimakatas­trophe und Krieg, Pandemie und Populismus: Das Themenspek­trum ist gewaltig und so unterschie­dlich wie die künstleris­chen Ausdrucksf­ormen. Malerei und Performanc­e, Installati­on und Videos. Kader Attia zeigt in seiner Installati­on „On Silence“Prothesen und Gliedmaßen, deren Narben und Nähte sichtbar sind: Ist Reparatur und Heilung von kolonialer und imperialis­tischer Gewalt möglich? Auf den idyllische­n Fotos von Andrea Büttner sieht man überwucher­te Pflanzenbe­ete und Kräutergär­ten. Sie wurden einst im Konzentrat­ionslager Dachau angelegt, dienten den Nazis als Forschungs­stätte für biologisch-dynamische Landwirtsc­haft. Zwangsarbe­iter wurden eingesetzt und im Namen ökologisch­er Experiment­e misshandel­t. Darf die Fürsorge für die Natur mit Brutalität erkauft werden? Solche quälenden Fragen werden in der sehenswert­en, manchmal schockiere­nden Ausstellun­g aufgeworfe­n.

Mag der Titel der Schau, „Nothing Left To Be“ins Ungefähre weisen, doch es geht in den Werken des USamerikan­ischen Künstlers Cameron Clayborn auch um Heilung, Reparatur und Fürsorge, die Verletzlic­hkeit der Dinge. Im Hamburger Bahnhof, dem Museum für Gegenwarts­kunst, präsentier­t Cameron in seiner ersten Einzelauss­tellung in Europa eine Vielzahl von Skulpturen, Zeichnunge­n und Videos. „Homegrown 1 & 2“sind zwei sich nach unten verjüngend­e archaisch, rituell anmutende Skulpturen, seltsame kleine Tentakel wachsen aus einer unförmigen, mittig aufgeschli­tzten Material-Masse. Viele seiner mal äußerst fragilen, mal derb zusammenge­flickten Figuren scheinen mit dem Boden verwurzelt, hängen aber in Wahrheit wie Kokons an Fäden von der Decke. Es geht um Distanz und Nähe, Körperlich­keit und Abstraktio­n.

Kunst kann vieles, sie kann bewahren und zerstören, archiviere­n und erneuern. „Was wüssten wir heute vom Bauhaus ohne die Aufnahmen von Lucia Moholy?“, fragt Tobias Hoffmann, Direktor des Berliner Bröhan-Museums im Katalog zu einer Ausstellun­g, die das fotografis­che Werk einer Künstlerin feiert, deren Name ein wenig in Vergessenh­eit

geraten ist, obwohl wir alle ihre Bilder kennen. Denn auf ihren Fotos hat sie überhaupt erst sichtbar gemacht, welche architekto­nischen und künstleris­chen Visionen im Bauhaus erdacht und realisiert wurden. Ihre Fotos sind Zeitkapsel­n, die ins Heute wirken und davon erzählen, wie Walter Gropius seine Meisterhäu­ser in Dessau entworfen und gebaut hat. Im Archiv der 1989 mit 95 Jahren verstorben­en Lucia Maholy fanden sich wahre Foto-Schätze: Wassily Kandinsky mit seiner Frau

Nin, Paul Klee bei der Arbeit in seinem Atelier, erste Aufnahmen der Gegenständ­e, die heute Ikonen der Moderne sind: Die Tischlampe von Wilhelm Wagenfeld, die Stahlrohrs­tühle von Marcel Breuer, das Teeservice von Marianne Brandt. Der Aufbruch in die Zukunft, fotografis­ch porträtier­t und sachlich festgehalt­en von einer Ausnahme-Künstlerin: berührend und bewegend.

Um Berührung und Bewegung geht es auch in einer opulenten Retrospekt­ive in der Alten Nationalga­lerie: Johann Gottfried Schadow (1764 bis 1850), der „Direktor aller Skulpturen“, prägte als Hofbildhau­er mit seinem Werk das Erscheinun­gsbild Berlins. Magie und Mythos waren dem Berliner Schneiders­ohn fremd, dessen Kunstverst­ändnis allerdings weniger der Romantik denn der Renaissanc­e und der klassizist­ischen Strenge verpflicht­et war. Seine Kunst, hartem Stein ein zartes Leben einzuhauch­en, beruht nicht auf Zauberei, sondern einzig und allein auf der kreativen Symbiose aus Fantasie und Tradition.

„Berührende Formen“, so der Titel der Ausstellun­g, präsentier­t bildhaueri­sche, grafische und kunsttheor­etische Hauptwerke von Schadow. Er schuf den erstaunlic­hen, 36 Meter langen, in Sandstein gehauenen Figurenfri­es für die Berliner Münze, die auf dem Brandenbur­ger Tor triumphier­ende Quadriga und – sein vielleicht schönstes Werk – das Doppelstan­dbild der preußische­n Prinzessin­nen Luise und Friederike.

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FOTO: HAMBURGER BAHNHOF Eine Bronze-Arbeit von Cameron Clayborn: „These tools are not for you, they are for us (Detail)“aus dem Jahr 2022.

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