Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Zuversicht in der Zeitenwende
Zu Silvester ein kleines Manifest der Hoffnung, des Humors und der Gelassenheit, in dem auch ein JugendstilGedicht und Anne Frank eine Rolle spielen.
Zeitenwende – es ist das Wort des Jahres, nicht nur für die Duden-Redaktion. Es taucht in Reden, Interviews und Leitartikeln auf, an ihm kommt niemand vorbei, wohl auch im neuen Jahr nicht. Der Bundeskanzler hat den Begriff für den großflächigen Angriff Russlands auf die Ukraine vor mehr als zehn Monaten geprägt. „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, sagte Olaf Scholz damals. Jetzt, am Ende des Jahres, lässt sich fragen, ob er eigentlich recht hatte und, noch wichtiger, mit welcher Geisteshaltung – oder welchen Vorsätzen – man sich auf das neue Jahr einstellen sollte. So viel vorweg: Angst ist der schlechteste Ratgeber.
Die Welt, die ist da draußen wo, Mag auf dem Kopf sie stehn!
Sie interessiert uns gar nicht sehr, Und wenn sie nicht vorhanden wär‘, Würd’s auch noch weiter gehen.
Diese Verse dichtete „Simplicissimus“-Autor Otto Julius Bierbaum vor rund 120 Jahren, als die Industrialisierung alles umwälzte. Man könnte auch von einer Zeitenwende sprechen; die Welt war nicht mehr dieselbe. In dem Lied geht es um ein tanzendes Paar – Klingklanggloribusch, ich dreh mich wie ein Pfau. Trotz aller Leichtigkeit kommt es an der Welt da draußen nicht ganz vorbei, es ist eine bittersüße Stimmung. Kurz vor seinem Tod schrieb Bierbaum einen Satz, der zu einem geflügelten Wort wurde: Humor ist, wenn man trotzdem lacht.
Damals wurden die Dinge erst mal nicht besser, sondern schlechter. Inflation, Armut und Hunger, soziale Spannungen, zwei Weltkriege, die Shoah, Hiroshima. Erst dann wendeten sich die Zeiten zum Guten, folgte die lange Friedensphase in Europa von gut sieben Jahrzehnten, die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders, der sozialen Marktwirtschaft, des
Wohlstands – und der Bündnisse, die Stabilität gaben und bis heute geben: Uno und OSZE, Nato und EU. Wenn sich eines daraus lernen lässt, dann, dass es gemeinsame Werte braucht.
Allerdings sind sie in einer Welt, die ungleichzeitig lebt, in der also in, sagen wir, Russland, China oder auch Katar andere Maßstäbe gelten, nicht leicht aufrechtzuerhalten. Das Gefälle zwischen der wertebasierten Außenpolitik, die Olaf Scholz vor der Uno-Vollversammlung proklamierte, und der Reise nach SaudiArabien wenige Tage später, um Erdöl einzukaufen, lässt sich mit Händen greifen. Sollte man deswegen nichts auf jene Werte, auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit geben? Ist die sogenannte Realpolitik ein Verrat an ihnen?
Nein, es muss der Anspruch sein, sie gerade dann nicht aus den Augen zu verlieren, wenn sie auf die Probe gestellt werden. „In der Zwischenzeit muss ich meine Ideale hoch und trocken halten, in den Zeiten, die kommen, sind sie vielleicht doch noch auszuleben“, schrieb Anne Frank einst in ihr Tagebuch, als sie sich in Amsterdam in einem Hinterhaus verstecken musste. Hoch und trocken halten für kommende Zeiten – das ist geschrieben in der Zeit des nationalsozialistischen Terrors, aber auch mitten in einer Zeitenwende, in der die Welt nicht dieselbe bleibt, besonders anspruchsvoll.
Wie gelingt das zwischen Krieg und Klimawandel,
Inflation und digitaler Revolution? Neben Leichtigkeit, Humor und Werten braucht es offensichtlich auch Gelassenheit. Oder, um mit dem „Zeit“-Journalisten Bernd Ulrich zu sprechen: „Lieber Doppelmoral als gar keine Skrupel.“Nicht jede hitzige Twitter-Debatte beschreibt tatsächlich einen Skandal, nicht jedes falsche Wort ist der Weltuntergang, nicht jeder Widerspruch eine Offenbarung. Die eigenen Ansprüche nicht aufzugeben und sich zugleich mit der Wirklichkeit zu arrangieren – es kann so schwer sein, im Politischen wie im Privaten. „Oh meine Zeit! So namenlos zerrissen“, schrieb der Lyriker Wilhelm Klemm im Jahr 1917. Es war das Jahr, als die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten, der damals noch nicht so hieß, Russland eine kommunistische Revolution erlebte und die Spanische Grippe kurz vor ihrem Ausbruch stand.
Der Blick zurück zeigt, dass die Krisen sich heutzutage nicht häufen, auch wenn es so scheinen mag, sondern die Menschen sie dank der Geschwindigkeit der digitalen Welt schneller begreifen. Es brauchte im Frühjahr nur Wochen, um eine breite Einigkeit gegen Russland auf die Beine zu stellen. Nahezu unerschöpfliche Finanzmittel und Waffenlieferungen für die Ukraine, Sanktionen gegen den Aggressor – ja, nicht alles davon wirksam, aber so viel Einigkeit war selten, selbst wenn China, Indien und andere Staaten eine abwartende Haltung einnehmen.
Aber zurück zum Bundeskanzler. Der Ukraine-Krieg hat eine lange Vorgeschichte, deswegen lässt sich der Beginn der Zeitenwende nicht auf den 24. Februar datieren, vermutlich nicht einmal auf 2014, als Russland die Krim annektierte. Der Einmarsch vor zehn Monaten stellt sich eher als blutige Spätfolge des Kalten Krieges dar, nach dessen Ende sich die USA als Sieger gerierten, China rasant aufstieg und Russland sich aus Resten der Sowjetunion neu konstituierte. Damit soll nicht gesagt sein, dass der Fall der Mauer zwangsläufig in den Ukraine-Krieg mündete – sondern nur, dass die Zeitenwende damals begonnen hat. Oder, um es im Duktus des Kanzlers zu sagen: Die Welt war ab 1990 nicht dieselbe wie die Welt davor – aber die USA, Europa und Deutschland haben zu wenig daraus abgeleitet. Die Welt begann, sich neu zu ordnen, und parallel brach sich die digitale Revolution Bahn. Beide Entwicklungen wurden zunächst unterschätzt, beide sind längst nicht abgeschlossen.
Es war naiv zu glauben, Russland würde sich mit einem Platz am Katzentisch der Weltpolitik zufriedengeben. Doch solange das russische Gas durch die Pipelines nach Westen floss, blieb die totalitäre Entwicklung des flächenmäßig größten Landes der Erde, vorangetrieben von Wladimir Putin und einer Oligarchenclique, eine Fußnote in Protokollen und Gipfelerklärungen.
Die Zeitenwende hat nicht am 24. Februar begonnen, sondern sie zeigte sich an jenem Tag auf erschütternde Weise, und sie endet nicht, wenn der Ukraine-Krieg endet. Es gilt, sie durchzustehen und zu gestalten, sich ehrlich zu machen, aus Versäumnissen zu lernen, die eigenen Ideale hoch und trocken zu halten, gelassen zu bleiben – und natürlich, Leichtigkeit und Humor nicht zu verlieren. Und wenn das jeder und jedem einigermaßen gelingt, nicht jeden Tag, aber doch immer wieder, dann kann es ein frohes neues Jahr werden. Denn die Geschichte zeigt, dass die Zeiten sich stetig zum Besseren wenden, nicht linear, mit enormen Rückschlägen, aber doch zum Besseren.
Verlag und Redaktion wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein frohes
neues Jahr.
Die nächste Ausgabe unserer Zeitung
erscheint am 2. Januar.