Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Der Bagger ist schon da
In Lützerath bereiten sich die Aktivisten auf die Räumung vor. Zugleich versuchen sie, auf Zeit zu spielen, damit sich die Aktion der Polizei in die Länge zieht. Ein Stimmungsbild aus dem Dorf im Rheinischen Revier.
LÜTZERATH Der gigantische Bagger wirft in der tief stehenden Dezembersonne kurz vorm Jahreswechsel bereits seine Schatten auf die Mahnwache, die kaum 50 Meter von dem monströsen Ungetüm aus Metall entfernt ist. So nah soll der Bagger, der sich unnachgiebig durch das rheinische Braunkohlerevier frisst, noch nie an den Zelten und Wohnwagen gestanden haben. RWE habe ihn erst am Mittwoch absichtlich so dicht an die Abbruchkante herangerückt, meint ein junger Mann aus Bayern, der gerade erst in Lützerath angekommen ist und über die noch verbliebene, teils schon zugewachsene Hauptzufahrtsstraße ins Dorf schlendert. „Damit wollen sie uns demonstrativ den Mittelfinger zeigen“, sagt er. Aber davon lassen er und die anderen Aktivisten sich nicht mehr beirren. Zu viel haben sie in den vergangenen Monaten erlebt, ausgehalten und miteinander durchgestanden. „Sollen sie ruhig kommen“, sagt der Mann aus Bayern kämpferisch.
Lützerath, das jahrhundertealte Örtchen, das zu Erkelenz gehört, ist zum Symbol des Widerstands gegen die Braunkohle geworden. Aktivisten, die aus aller Welt kommen, kämpfen für den Erhalt des Dorfes, um das Klima zu schützen. Das Dorf ist fest in ihrer Hand. Lützerather leben dort schon lange nicht mehr. In ihren Häusern wohnen nun Aktivisten. Der letzte Einwohner, Landwirt Eckardt Heukamp, der an der Abbruchkante Möhren angebaut und lange Widerstand geleistet hat, hat seine landwirtschaftlichen Flächen notgedrungen an den Energieerzeuger verkauft; das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster hatte entschieden, dass RWE den Ort abbaggern darf.
Nun soll die Ortschaft, die mit ihren provisorischen Straßensperren, Checkpoints, verlassenen Häusern und teils vermummten Menschen an postapokalyptische Filme erinnert, in wenigen Tagen geräumt und dann dem gewaltigen Bagger preisgegeben werden, der schon an der Abbruchkante wartet. Wann die Räumung genau erfolgen wird, weiß niemand im Dorf – es wird vermutet, dass es irgendwann ab dem 10. Januar so weit sein wird.
Jule ist seit einem Jahr in Lützerath. Die Mitdreißigerin sitzt auf einer Holzbank vor der Mahnwache und blickt auf den Schaufelbagger, der so nah herangerückt ist. Neben ihr sitzen und stehen weitere Aktivisten;
einige sind gerade erst im Dorf angekommen. Die Stimmung ist gelassen. „Es ist die Ruhe vor dem Sturm“, meint Jule. Man bereitet sich auf den Tag X vor. Dazu zählt auch, Plätze zu schaffen, um alle Aktivisten unterzubringen, von denen täglich mehr kommen. Wie viele von ihnen in Lützerath mittlerweile sind, lässt sich nur schwer schätzen – vielleicht 100, vielleicht 150, vielleicht auch mehr. Es sind überwiegend junge Erwachsene, darunter viele Frauen. Sie wohnen in provisorischen Holzbaracken. Es gibt auch einige windschiefe Baumhäuser, die den teils sehr starken Böen trotzen. Es ist trist und kahl – Endzeitstimmung. „Wir haben schon Angst. Wir müssen davon ausgehen, dass die Polizei mit Gewalt vorgehen wird, wenn die Räumung beginnt“, sagt Jule.
Noch fahren vereinzelt Lastwagen und Autos ins Dorf. Ab dem 2. Januar soll damit Schluss sein. Die Straße wird entwidmet. Absperrungen, die schon am Straßenrand der Zuwege liegen, werden dann aufgestellt. Nur noch zu Fuß wird es dann möglich sein, nach Lützerath zu kommen.
Bis zum 9. Januar wird die Mahnwache geöffnet bleiben – ursprünglich sollte sie schon zum Jahreswechsel schließen. Doch die Frist ist verlängert worden. Bis dahin ist es legal möglich, ins Dorf zu kommen. „Ab dem 11. Januar wird ein Zaun um Lützi gebaut“, sagen die Aktivisten.
Ab dann irgendwann rückt die Polizei im Dorf ein.
Jule ist enttäuscht von der Politik – insbesondere von den Grünen. „Bevor sie gewählt worden sind, haben sie sich hier mit dem Ort geschmückt und waren hier. Aber das Verhalten der Grünen zeigt auch, wie das System funktioniert. Leute, die in Regierungsverantwortung kommen, können offenbar nicht anders, als sich nach den kapitalistischen Grundsätzen zu richten“, sagt sie. Nordrhein-Westfalens Wirtschafts- und Klimaschutzministerin Mona Neubaur (Grüne), Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und RWE hatten Anfang Oktober einen um acht Jahre auf 2030 vorgezogenen Kohleausstieg im Rheinischen Revier vereinbart. Zu der Vereinbarung gehört allerdings auch, dass zwei Kraftwerksblöcke, die eigentlich schon zum Jahresende abgeschaltet werden sollten, wegen der Energiepreiskrise mindestens bis Ende März 2024 in Betrieb bleiben. Zudem soll Lützerath abgerissen werden, um dort Kohle zu fördern. Auch der Bundestag hatte das Ausstiegsgesetz gebilligt. „Das zeigt, dass wir einen Systemwechsel brauchen“, sagt Jule.
Erdwälle und Gräben durchziehen Lützerath. Holzpflöcke, teils angespitzt, sind in den matschigen Boden geschlagen. Am Ortseingang sind Pflastersteine angehäuft, es gibt Blockaden aus Unrat. Die Aktivisten wollen den Polizeikräften standhalten – und spielen auf Zeit. Ihr Ziel ist es, möglichst bis zum 28. Februar auszuharren und bis dahin Widerstand zu leisten. Dann endet die Rodungssaison in NRW. „Unsere Strategie ist es, den Preis für die Räumung so hoch wie möglich zu treiben. Die Polizei hat nur ein sehr eingeschränktes Zeitfenster. Ab Mitte Februar ist auch noch Karneval, da braucht die Polizei auch viele Kräfte, die dann hier nicht mehr sein können“, sagt Jule. „Wenn wir es wirklich schaffen, dass wir hier sehr viele Leute werden, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass wir unser Ziel erreichen“, sagt sie. „Es ist unsere größte Hoffnung, dass der Protest wirklich groß wird. Wir hoffen, dass viele Menschen kommen werden und Zeuge von dem hier werden“, sagt Jule.