Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
„Das Leben muss nicht vorbei sein“
Drei Menschen erzählen, wie sie das Beste daraus machten, als sie im Alter ihr geliebtes Zuhause verlassen haben. Und sie haben einen eindringlichen Rat – auch an Jüngere.
n jenem Samstagabend, der zu enden schien, wie so viele gemeinsame AbenAde,
nämlich zusammen vor dem Fernseher, träumten sich Rainer und Hildegunde Scholz noch einmal nach Gotland. Eine Kreuzfahrttour auf die schwedische Ferieninsel sollte es zur goldenen Hochzeit in drei Jahren werden, wenn es nach ihr ging – er war skeptisch: Da müsse man erst einmal schauen, wie das mit ihrem Rollstuhl klappen könnte, habe Rainer Scholz gemeint. Aber bis dahin sei ja noch Zeit, erinnert sich Hildegunde Scholz an seine Worte. Er habe in seinem Sessel gesessen und gemeint, er fühle sich irgendwie nicht gut. Dann sei er weggesackt. „Um kurz vor Mitternacht war er tot.“
Hildegunde Scholz, 78 Jahre alt, durch eine neurologische Erkrankung an einen Rollstuhl gebunden, sitzt in ihrem Zimmer im DiakonieStammhaus Kaiserswerth und erinnert sich an den 19. Januar 2020, als wäre es gestern gewesen. „Ich dachte, jetzt ist alles vorbei. Ich habe meinen Mann verloren, ich habe mein Leben verloren, von jetzt auf gleich, innerhalb von fünf Minuten. Dann kam Corona. 2020 dachte ich nur: Wie überlebst du das?“
Dass sie nicht in der gemeinsamen Wohnung in Erkrath bleiben konnte, stand eigentlich lange fest. 2015 bekam sie die Diagnose Primär progrediente MS, kurz PPMS, eine seltene Form der Multiplen Sklerose, die ihre linke Körperhälfte lähmt und die nicht schubweise, sondern stetig fortschreitend verläuft. „Ich wusste, was auf mich zukommt“, sagt Scholz, die einst 15 Jahre Arzthelferin in einer neurologisch-psychiatrischen Praxis war. Und noch aus dem Stand über B- und T-Zellen und deren Rolle bei ihrer Medikamententherapie referieren kann. Körperlich ist die 78-Jährige nicht fit, geistig sehr wohl. Gedanken über Hilfe, Unterstützung oder das Worst-Case-Szenario aber hat sie sich nie gemacht, haben sich beide nie gemacht. Bis es zu spät war.
Jetzt also das dritte Weihnachten, der dritte Jahreswechsel ohne ihren Mann, ihre große Liebe, die sie am 5. Februar 1975 nach ihrem Auftritt in einer WDR-Sendung kennenlernte. „Spätere Heirat nicht ausgeschlossen“hieß das Format, das Vorlage für etliche Datingshows von heute gewesen sein muss. Die „Fernsehwoche“porträtierte das junge Glück damals, Scholz zeigt ein Album mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln: „Ich war noch nie so glücklich“, glaubt Hildegunde heute. Und Rainer vermag sich nicht mehr vorzustellen, jemals eine andere Frau so geliebt zu haben wie die Katzenfreundin“, steht dort. Sie bekamen drei Kinder, fünf Enkel, reisten viel, waren glücklich. Heute sind die Tage lang, oft einsam, der Bewegungsradius ist klein. Der Umzug ins Heim war ein Schock. „Aber die Leute sollen wissen“, sagt Scholz, „auch wenn man sein geliebtes Zuhause verliert, muss das Leben nicht vorbei sein.“
Das Stammhaus Kaiserswerth, ihr neues Zuhause, liegt inmitten des historischen Stadtkerns. Das 1836 gegründete, kernsanierte Gebäude fügt sich derart in die hübschen Fassaden der Fußgängerzone, dass man beinahe daran vorbeigeht. Innen ist es nicht nur architektonisch hell, freundlich und großzügig gestaltet. Auf 148 Bewohnerinnen und Bewohner kommen derzeit etwa 150 Mitarbeitende im Stammhaus Kaiserswerth – inklusive Auszubildende, Mitarbeitende in Verwaltung und Empfang, Küchenpersonal, Hausmeister, Sozialpädagogen und Betreuungsassistenten. Letztere werden vor allem für die Freizeitgestaltung eingesetzt. Seit Inkrafttreten des zweiten Pflegestärkungsgesetzes 2017 haben alle Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen einen rechtlichen Anspruch auf eine solche zusätzliche Betreuung.
„Bei den Assistenten pro zu Pflegenden haben wir einen Schlüssel von 1:20“, sagt Anke Schmidt, Leiterin der Sozialen Dienste im Haus, „das sind theoretisch zwei Stunden pro Woche und Bewohner.“Da sei alles an Gruppenangeboten
– Feste, Organisation, Vorund Nachbereitung schon mit eingerechnet. Viele Ältere wünschten sich mehr, gerade wenn sie so fit seien wie Hildegunde Scholz. Es gebe auch immer wieder Bewohner mit depressiven Verstimmungen. „Das Haus ist auch nur ein Spiegel der Gesellschaft.“Das soziale Netz werde ja insgesamt immer dünner, Familien und Freunde lebten sich räumlich oder menschlich auseinander, „im Pflegeheim haben die meisten also dann doch mehr Kontakte, als würden sie allein zu Hause leben“, sagt Inge Kaiser, die die Einrichtung derzeit leitet.
Zeit ist ein entscheidender Faktor, der Personalschlüssel ein kompliziertes Rechensystem, mit dem jedes Haus jonglieren muss. Den Pflegenotstand spüren Bewohner buchstäblich am eigenen Leib: an der Taktung im Alltag, am teils wechselnden Personal, an fremden Kräften, die ganz selbstverständliche, alltägliche Aufgaben übernehmen. Für Hildegunde Scholz aber sind es sehr persönliche: Waschen, Anziehen, zur Toilette gehen. Kein Bedürfnis ohne Abhängigkeit, jedes Klingeln ein Hilferuf. Der 78-Jährigen geht es um Selbstbestimmtheit, auch um Intimität, die sie aufgeben musste. Momente der absoluten körperlichen Nähe, die sie jahrzehntelang nur einem einzigen Menschen gewährt hat – ihrem Ehemann. Am meisten bereut sie, nicht mit ihm gesprochen zu haben: „Was mache ich, wenn du vor mir gehen solltest? Solche Fragen hat er abgeblockt,“sagt Scholz. „Heute rate ich jedem, der ein Handicap hat, eine Krankheit oder Beschwerden:
Kümmern Sie sich rechtzeitig.“
Gerd Schaaf hat sich gekümmert. Er verließ sein altes Leben geplant, auch wenn er dort alles hatte, was er braucht: eine schöne Wohnung, eine Haushaltshilfe und Familie, die ihn umsorgte. „Nach dem Tod meiner Frau war ich allein. Und wenn man alleine ist, fängt man an zu grübeln“, sagt der 81-Jährige. So reifte in ihm der Gedanke, ins Seniorenzentrum Erikaweg in Hilden zu ziehen. „Ich kann es hier mal versuchen“, dachte er sich. Seitdem sind drei Jahre vergangen, in denen Schaaf seine Entscheidung kein einziges Mal überdacht hat.
Der Einzug von Christel Rathmann war dagegen nicht geplant. Drei Jahre hat sie im Betreuten Wohnen an der Hummelsterstraße gewohnt, bis sie im vergangenen Dezember im Badezimmer ausrutschte. „Ich dachte: Das war‘s jetzt, Schluss mit dem Leben“, erinnert sich die Seniorin. Drei Stunden lag sie dort, bis sie es schaffte, zum Telefon in ihrem Wohnzimmer zu robben und den Notruf zu verständigen. Dann ging alles ganz schnell. Oberschenkelhalsbruch, Krankenhaus, OP, Reha. Anschließend drei Wochen Kurzzeitpflege im Seniorenzentrum Erikaweg. Schon nach wenigen Tagen war Rathmann klar: „Hier ist es schön, hier möchte ich bleiben.“Zu dem Zeitpunkt waren aber alle Zimmer besetzt. Drei Wochen später, einen Tag vor ihrem geplanten Auszug, die ersehnte Nachricht: Ein freies Zimmer. „Es war mein Glück“, sagt die 85-Jährige. „Heute bin ich froh, hier zu sein.“
Den Gedanken, lieber tot als im Pflegeheim zu sein, können beide nicht nachvollziehen. „Viele denken sicher noch daran, wie die Heime früher waren“, vermutet Schaaf. Und es gebe auch heute sicher noch Einrichtungen, in denen nicht alles rund laufe. Solche Erfahrungen habe er bislang nicht gemacht. Im Gegenteil: Die Bedürfnisse der Bewohner stünden in der Hildener Einrichtung stets im Vordergrund. Zu Hause habe er nicht tagtäglich die Wahl aus fünf Aufschnitten oder verschiedenen Obstund Gemüsesorten gehabt. „Auch in Corona-Zeiten, in denen das Personal stark belastet war, sind wir immer sehr gut versorgt worden“, sagt Schaaf. Im Seniorenzentrum Erikaweg sind 62 Mitarbeitende und zwölf Auszubildende in der Pflege beschäftigt. Hinzu kommen zwölf Betreuungskräfte und rund 70 ehrenamtliche Helfer. „Durch die Unterstützung der Ehrenamtlichen können wir viel mehr Programm anbieten“, sagt Einrichtungsleiterin Beate Linz-Eßer – und das wissen auch die Bewohner zu schätzen.
„Wer hier Langeweile hat, ist selber Schuld“, meint Christel Rathmann. Montags Singen, dienstags Gedächtnistraining und Bingo, mittwochs werden die Harfen ausgepackt. „Das hätte ich auch nicht gedacht, dass ich im Heim noch das Harfespielen erlerne“, sagt die 85-Jährige. Geschweige denn Teil eines Adventskonzerts zu sein. So strukturieren – neben den Mahlzeiten – die Angebote den Tag. Einen exakt festgelegten Tagesablauf gibt es trotzdem nicht. „Wir versuchen, unseren Bewohnern so viel Freiheit und Normalität zu geben wie eben möglich“, so Linz-Eßer. Das heißt: Jeder entscheidet selbst, wann er aufsteht, was er machen und wohin er wann gehen will. Einige Senioren sind sehr aktiv, manche weniger. Wer auf der Suche nach Gesellschaft ist, hält sich im großen Foyer auf. Zum Beispiel Montagabends, zum Herrenabend. „Dann treffen wir
Männer uns bei einer Flasche Bier – und dann wird über die Frauen hergezogen“, scherzt Schaaf.
Zurück nach Kaiserswerth, wo Hildegunde Scholz im Zimmer 317 vor ihrem Bücherregal sitzt. Eines der wenigen Möbel, die sie mitgebracht hat. Literatur ist ihr wichtig, Charlotte Link und Michelle Obama liest sie gern, ihr Lieblingsmaler Modigliani hängt an den Wänden, außerdem Dutzende Fotos von Rainer, ihren Kindern und Enkeln. Ihren Sohn aus Düsseldorf mit den drei Kindern hat sie zweimal in diesem Jahr gesehen, ihre Schwester einmal. Unter den 19 Bewohnern ihrer Etage sei leider niemand, mit dem sie gut reden könne, einmal die Woche aber komme eine Ehrenamtlerin vorbei. Mittwochabends geht sie zum Stammtisch, unten im Clubraum, dienstags liest sie dort anderen vor. Hier sei jetzt ihr Zuhause, sagt Scholz, die den freien Platz damals über die „Heimfinder“-App des Landes NRW gefunden hat. Besuch fehlt ihr sehr, trotz all des Programms im Haus. Menschliche Kontakte, auch Nähe. Aber sie hat schon eine Idee: Sie will den Tag der Umarmung ins Leben rufen.
„Heute rate ich jedem:
Kümmern Sie sich rechtzeitig“
Hildegunde Scholz
Weitere ausführliche Artikel erwarten Sie ab Samstagabend um 20.15 Uhr im digitalen Zeitungsmagazin „Der Sonntag“. Darin unter anderem:
Nichts wünscht man sich zu Neujahr mehr als Glück. Was also lässt sich im Glücksunterricht an einer Gesamtschule in Voerde lernen?
Dazu: Wie eine junge Deutsche einen Lebensmittelladen in San Francisco übernahm. Und: der aus Duisburg stammende Comedystar Dirk Stermann im Interview.
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