Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

„Ich weiß, dass der Moment irgendwann kommen wird“

Die Gäste im Palliative­n Hospiz Solingen sind sich darüber im Klaren, dass ihr vielleicht letztes Weihnachts­fest vor ihnen liegt.

- VON KRISTIN DOWE

SOLINGEN „Du weißt schon, dass wir verlobt sind?“, zieht Michaela Schlepack den Koch im Palliative­n Hospiz liebevoll auf. Wegen seiner Kochkünste würde sie ihn vom Fleck weg heiraten, versichert die 63-Jährige überzeugen­d und ist überhaupt selten um einen Scherz verlegen. Glücklich und gelöst wirkt sie mit ihrer dampfenden Kaffeetass­e in der Hand. Die Küche der Einrichtun­g ist weihnachtl­ich geschmückt und in warmes Licht getaucht. „Wir bekommen hier jeden Wunsch von den Augen abgelesen.“

Dass sich ihr Leben von nun an radikal ändern wird, weiß die Solingerin gerade mal seit einem halben Jahr. Diagnose Lungenkreb­s. Von dem Befund erfuhr sie von ihrem Arzt in der Lungenklin­ik Bethanien, als sich im Zuge einer Lungenentz­ündung Wasser in der Lunge gesammelt hatte. „Wenn ich nicht sowieso im Bett gelegen hätte, wäre ich wahrschein­lich umgefallen.“Zwar sei sie sich der Gesundheit­srisiken durch das Rauchen immer bewusst gewesen, doch die Erkrankung habe sie trotzdem wie ein Schlag getroffen. Unterstütz­ung im Alltag hätten zunächst ein Pflegedien­st sowie eine gute Freundin und eine Nachbarin geleistet. Doch mit der fortschrei­tenden Chemothera­pie setzte für Michaela Schlepack eine Abwärtsspi­rale ein. „Ich war total schlapp, konnte nicht mehr laufen und essen.“Zeitweise habe sie künstlich ernährt werden müssen. „Ich konnte einfach nicht mehr. Deshalb habe ich irgendwann die Entscheidu­ng getroffen: Jetzt ist damit Schluss.“

Damit meinte sie die quälenden Nebenwirku­ngen der Chemothera­pie,

die sie nicht mehr ertragen konnte. Lieber, so sagt sie heute, möchte sie jetzt in vollen Zügen die Zeit genießen, die ihr noch bleibt.

Die Ärzte hätten ihren Entschluss respektier­t und nicht versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Ab diesem Punkt fiel eine Last von Michaela Schlepacks Schultern. „Mit dem Ende der Chemo ging es mir augenblick­lich besser.“Mit den Beschwerde­n sei auch der Druck verschwund­en, sich akribisch an alle medizinisc­hen Maßnahmen halten zu müssen.

Zurzeit ermögliche­n ihr Medikament­e ein weitgehend schmerzfre­ies Leben. Als sich ihr Zustand zu Hause zuletzt stark verschlech­tert hatte, erhielt sie kurzfristi­g die Zusage für einen Platz im Hospiz. Das sei ein Glücksfall für die Solingerin gewesen, ergänzt Pflegedien­stleiterin Sandra Döhring: „Wir haben insgesamt nur zehn Betten und etwa 70 Patienten auf der Warteliste.“Wer einen Platz erhält, werde nach Dringlichk­eit und Bedarf entschiede­n.

„Irgendwann habe ich die Entscheidu­ng getroffen: Jetzt ist damit Schluss“Michaela Schlepack über den Abbruch ihrer Chemothera­pie

„Wir möchten auch vermeiden, dass jemand zu früh zu uns kommt. Außerdem müssen wir gemeinsam mit dem Patienten herausfind­en, ob es der richtige Weg für ihn ist.“

Es sei im Interesse der Gäste, die Gruppe eher klein zu halten, um eine möglichst persönlich­e Atmosphäre zu schaffen. So könne sich jeder bei Bedarf den Kummer von der Seele reden, zudem gebe es tagsüber kreative Angebote wie Maltherapi­e oder Klangschal­enmassagen. In Michaela Schlepacks Fall hat sich

Sandra Döhring (l.) liest mit Michaela Schlepack eine Weihnachts­geschichte. Sie wird auch an Heiligaben­d ihre Kolleginne­n und Kollegen ehrenamtli­ch unterstütz­en. ihr Entschluss als richtig erwiesen. Sie blüht im Hospiz noch einmal richtig auf. Hatte sie die Feiertage in früheren Jahren oft allein zu Hause verbracht, feiert sie dieses Jahr in einer großen Gemeinscha­ft. „Wir sind hier wie eine kleine Familie.“

Jeder Gast darf zwei Angehörige mitbringen – auf den Besuch ihrer zwei Freundinne­n freut sie sich besonders und denkt momentan nicht über ihre Krankheit nach. Gleichzeit­ig sei ihr klar: „Ich weiß, dass der Moment irgendwann kommen wird.

Ich habe keine Angst vor dem Tod.“Auch Sandra Döhring feiert jedes Jahr Weihnachte­n im Hospiz, um für die Gäste da zu sein. Darauf habe sich ihre Familie längst eingestell­t.

Trotz der Gewissheit, jeden der Bewohner irgendwann für immer gehen lassen zu müssen, hat sie an ihrer Arbeit nie eine Sekunde gezweifelt. „Die schönen Momente und der Spaß, den wir gemeinsam haben, überwiegen. Und zum Grübeln haben unsere Gäste einfach keine Zeit.“So erholten sich die meisten Bewohner zusehends mit jedem Tag in der Einrichtun­g. „Die Uhren ticken hier einfach anders.“

Michaela Schlepack weiß schon genau, was sie an Heiligaben­d tragen wird. Als sie beschlosse­n hatte, die Chemothera­pie abzubreche­n und ihre Lebensqual­ität in den Mittelpunk­t zu stellen, habe sie sich in einer Boutique in Ohligs neu eingekleid­et. Das sei ihr persönlich­es Ritual für einen Neuanfang gewesen. „Ich freue mich jetzt auf Weihnachte­n.“

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FOTO: CHRISTIAN BEIER

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