Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Süßer die Glocken nie klingen
Das Beiern in der Evangelischen Kirche am Ludwig-Steil-Platz in Lüttringhausen hat Tradition. Aber wie funktioniert das eigentlich genau? Und wann ist das Glockenläuten zu hören?
LÜTTRINGHAUSEN Süßer als in Lüttringhausen klingen die Kirchenglocken zu Weihnachten sonst nirgends in ganz Deutschland: Denn hier wird an den Festtagen die Glocke der Evangelischen Kirche am Ludwig-Steil-Platz noch per Hand zum Klingen gebracht – und das ist einmalig in der Republik. Das Beiern in Lüttringhausen hat eine lange Tradition und sorgt auch dieses Jahr wieder im ganzen Dorp für einen beschwingten Auftakt ins Weihnachtsfest. Auch der Gottesdienst in der Evangelischen Kirche hat sich mittlerweile zum Geheimtipp entwickelt: nicht selten kommen hier bis zu 1000 Menschen zusammen. Doch was steckt eigentlich hinter dem Beiern?
Normalerweise bringt ein Motor die drei großen Glocken „Clarenbach“, „Heiland“und „Heimat“hoch oben im Turm zum Schwingen und ihr Klöppel bleibt gerade. Nicht so beim Beiern. Hierbei werden die Glocken mit einem Eichenbalken an der Wand im Winkel von etwa 40 Grad verkeilt und mit einem Seil festgemacht. Dann ziehen die Beiersleute eine Etage tiefer an einem Seil, das um den Klöppel gelegt wird – und der Klöppel wird bewegt. Und nicht die Glocke.
Das Beiern ist ein jahrhundertealter Brauch, vor allem in Belgien und in den Niederlanden. Das Wort „Beiern“kommt dabei vom altfranzösischen Wort „baier“, was „Bellen“oder „Anschlagen“bedeutet. Jedes Dorf hat seine eigene traditionelle Melodie.
In Lüttringhausen sind das die ersten drei Töne von „Es ist ein Ros’ entsprungen“und von „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Es ist immer der gleiche Rhythmus. In jedem Vierertakt schlägt die große Glocke einmal, die mittlere zweimal und die kleine Glocke viermal. Für den ganz besonderen Klang sorgt dabei ein ganzes Beier-Team um den Lüttringhauser Zahnarzt Dr. Felix Nolzen, das in der
Beierstube an den Seilen zieht. Das Kniffelige: Der Klang kommt zeitverzögert. „Man muss eine halbe Sekunde vorher am Seil ziehen“, erklärt Nolzen. Die Seile haben Knoten, um die Griffhöhe für die unterschiedlichen Beiers-Leute auch optisch deutlich zu machen. Alle fünf bis sieben Minuten erfolgt eine Ablösung. Denn das ist echt anstrengend.
Üben können die Beiersleute ihre Show vorher übrigens nicht – ihr Auftritt an Weihnachten muss sitzen. Und weil es so laut ist und sie Ohrschützer tragen, können sie sich nur Blicke zuwerfen, wenn der Ton mal nicht richtig sitzt. „Bei aller Einfachheit ist es schwierig, den Rhythmus und die Geschwindigkeit zu halten und dabei noch eine schöne Melodie zu erzeugen“, sagt Dr. Felix Nolzen.
Das Beiern hat ihm sein Vater schon in die Lüttringhauser Wiege gelegt: Schon mit zwei Jahren stand er hier auf dem Turm. Und pflegt diese Tradition heute als 34-Jähriger immer noch. So ist für Dr. Nolzen ist ein Weihnachtsfest ohne Beiern kein richtiges Fest. „Denn dann fühlt es sich erst richtig nach Weihnachten an.“
So geht es auch Markus Voß (43). „Es hat so etwas Herzerwärmendes“, sagt der 47-Jährige, der 1993 mit dem Beiern angefangen hat, wegzog und vor ein paar Jahren wieder in die Heimat kam. Für ihn war klar: Jetzt wird wieder gebeiert. „Es gibt dem Weihnachtsfest eine Nachhaltigkeit, einen Mehrwert und eine Relevanz fernab von Konsum und Helene Fischer im Fernsehen“, findet er.
Heiligabend wird um 14.30 Uhr, von 16 bis 17 Uhr sowie von 18 bis 18.30 Uhr gebeiert. Am 1. Weihnachtstag wird zwischen 4.30 Uhr und 6 Uhr im Wechsel mit den Turmbläsern gebeiert und dann wieder nach dem Frühgottesdienst, der von 6 bis 7 Uhr gefeiert wird, von 7 bis 7.30 Uhr. Der Frühgottesdienst hat sich laut Dr. Felix Nolzen zum Geheimtipp entwickelt. Er sagt: „Den sollte jeder unbedingt sehen.“Denn hier sei es besonders festlich samt Posaunenchor und Kirchenchor und einer tollen Stimmung.