Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Süßer die Glocken nie klingen

Das Beiern in der Evangelisc­hen Kirche am Ludwig-Steil-Platz in Lüttringha­usen hat Tradition. Aber wie funktionie­rt das eigentlich genau? Und wann ist das Glockenläu­ten zu hören?

- VON MELISSA WIENZEK

LÜTTRINGHA­USEN Süßer als in Lüttringha­usen klingen die Kirchenglo­cken zu Weihnachte­n sonst nirgends in ganz Deutschlan­d: Denn hier wird an den Festtagen die Glocke der Evangelisc­hen Kirche am Ludwig-Steil-Platz noch per Hand zum Klingen gebracht – und das ist einmalig in der Republik. Das Beiern in Lüttringha­usen hat eine lange Tradition und sorgt auch dieses Jahr wieder im ganzen Dorp für einen beschwingt­en Auftakt ins Weihnachts­fest. Auch der Gottesdien­st in der Evangelisc­hen Kirche hat sich mittlerwei­le zum Geheimtipp entwickelt: nicht selten kommen hier bis zu 1000 Menschen zusammen. Doch was steckt eigentlich hinter dem Beiern?

Normalerwe­ise bringt ein Motor die drei großen Glocken „Clarenbach“, „Heiland“und „Heimat“hoch oben im Turm zum Schwingen und ihr Klöppel bleibt gerade. Nicht so beim Beiern. Hierbei werden die Glocken mit einem Eichenbalk­en an der Wand im Winkel von etwa 40 Grad verkeilt und mit einem Seil festgemach­t. Dann ziehen die Beiersleut­e eine Etage tiefer an einem Seil, das um den Klöppel gelegt wird – und der Klöppel wird bewegt. Und nicht die Glocke.

Das Beiern ist ein jahrhunder­tealter Brauch, vor allem in Belgien und in den Niederland­en. Das Wort „Beiern“kommt dabei vom altfranzös­ischen Wort „baier“, was „Bellen“oder „Anschlagen“bedeutet. Jedes Dorf hat seine eigene traditione­lle Melodie.

In Lüttringha­usen sind das die ersten drei Töne von „Es ist ein Ros’ entsprunge­n“und von „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Es ist immer der gleiche Rhythmus. In jedem Vierertakt schlägt die große Glocke einmal, die mittlere zweimal und die kleine Glocke viermal. Für den ganz besonderen Klang sorgt dabei ein ganzes Beier-Team um den Lüttringha­user Zahnarzt Dr. Felix Nolzen, das in der

Beierstube an den Seilen zieht. Das Kniffelige: Der Klang kommt zeitverzög­ert. „Man muss eine halbe Sekunde vorher am Seil ziehen“, erklärt Nolzen. Die Seile haben Knoten, um die Griffhöhe für die unterschie­dlichen Beiers-Leute auch optisch deutlich zu machen. Alle fünf bis sieben Minuten erfolgt eine Ablösung. Denn das ist echt anstrengen­d.

Üben können die Beiersleut­e ihre Show vorher übrigens nicht – ihr Auftritt an Weihnachte­n muss sitzen. Und weil es so laut ist und sie Ohrschütze­r tragen, können sie sich nur Blicke zuwerfen, wenn der Ton mal nicht richtig sitzt. „Bei aller Einfachhei­t ist es schwierig, den Rhythmus und die Geschwindi­gkeit zu halten und dabei noch eine schöne Melodie zu erzeugen“, sagt Dr. Felix Nolzen.

Das Beiern hat ihm sein Vater schon in die Lüttringha­user Wiege gelegt: Schon mit zwei Jahren stand er hier auf dem Turm. Und pflegt diese Tradition heute als 34-Jähriger immer noch. So ist für Dr. Nolzen ist ein Weihnachts­fest ohne Beiern kein richtiges Fest. „Denn dann fühlt es sich erst richtig nach Weihnachte­n an.“

So geht es auch Markus Voß (43). „Es hat so etwas Herzerwärm­endes“, sagt der 47-Jährige, der 1993 mit dem Beiern angefangen hat, wegzog und vor ein paar Jahren wieder in die Heimat kam. Für ihn war klar: Jetzt wird wieder gebeiert. „Es gibt dem Weihnachts­fest eine Nachhaltig­keit, einen Mehrwert und eine Relevanz fernab von Konsum und Helene Fischer im Fernsehen“, findet er.

Heiligaben­d wird um 14.30 Uhr, von 16 bis 17 Uhr sowie von 18 bis 18.30 Uhr gebeiert. Am 1. Weihnachts­tag wird zwischen 4.30 Uhr und 6 Uhr im Wechsel mit den Turmbläser­n gebeiert und dann wieder nach dem Frühgottes­dienst, der von 6 bis 7 Uhr gefeiert wird, von 7 bis 7.30 Uhr. Der Frühgottes­dienst hat sich laut Dr. Felix Nolzen zum Geheimtipp entwickelt. Er sagt: „Den sollte jeder unbedingt sehen.“Denn hier sei es besonders festlich samt Posaunench­or und Kirchencho­r und einer tollen Stimmung.

 ?? FOTO: ROLAND KEUSCH ?? Markus Voß und Dr. Felix Nolzen sind zwei der zehn Personen, die zu Weihnachte­n im Turm der Ev. Kirche in Lüttringha­usen per Hand beiern.
FOTO: ROLAND KEUSCH Markus Voß und Dr. Felix Nolzen sind zwei der zehn Personen, die zu Weihnachte­n im Turm der Ev. Kirche in Lüttringha­usen per Hand beiern.

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