Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Ballett mit Küssen, Kurven und Komik
Choreografin Dominique Dumais zeigt an der Düsseldorfer Rheinoper mit „A Kiss to the World“eine berührende Tanzdarbietung.
DÜSSELDORF Manchmal, wenn man nichts Außergewöhnliches erwartet, freut man sich umso mehr über ein Geschenk. Manchmal, wenn ein unbekannter Ballettabend vor einem liegt, werden einem unerwartet berührende Momente beschert.
Die Gastchoreografin Dominique Dumais hat am Samstag in der Deutschen Oper am Rhein mit „A Kiss to the World“nicht nur eine Uraufführung, sondern eine Überraschung auf die Bühne gebracht: ein anspruchsvolles Ballett. Kein oberflächliches Techtelmechtel, keine aufreizende Knutscherei, sondern eine Gesellschaftsanalyse mit Tiefgang und viel Gefühl.
24 Tänzerinnen und Tänzer des Ballettensembles am Rhein arbeiteten daran mit. Gruppenchoreografien wechselten sich ab mit Soli, mit Pas de deux, mit Pas de trois. Long Zou und Jack Bruce lieferten ausdrucksstarke Soli ab; Doris Becker, Wun Sze Chan waren kraftvoll mit den Gruppen und Partnertänzen unterwegs.
Dominique Dumais ist nicht nur die Ballettchefin des MainfrankenTheaters in Würzburg, sie arbeitet auch als Dozentin für Bewegungserfahrung und -analyse. Ihr Schwerpunkt: funktionelle Anatomie. Und das sieht man. Was sie mit dem Ballett am Rhein erarbeitet hat, ist körperlich ganz fein, aber kein klassisches Ballett, schon gar kein Tanz auf der Spitze. Standards wie Fußpositionen oder die Attitude (Position mit einem angewinkelten Bein in der Luft) zerfließen in Bewegungen des zeitgenössischen Tanzes. Abgehackte Bewegungen folgen feinen Schwüngen. So wie es ein Auf und Ab der Gefühle gibt, so geht es für die Tänzerinnen und Tänzer hinauf und hinunter. Sie drohen zu fallen, sie fallen, sie schleifen sich über den Boden, springen in die Luft.
Atemberaubend sind die Hebefiguren zu zweit oder zu dritt. Edvin Somai, Wun Sze Chan und Joaquin Angelucci, Futaba Ishizaki und Daniele Bonelli etwa winden sich umeinander,
Jack Bruce tanzt ein Solo.
wirbeln, verhaken sich ineinander, lösen sich, als sei es federleicht.
Dumais hat ihren „Kuss an die Welt“philosophisch, wortgeschichtlich, biologisch, anatomisch, geometrisch und gesellschaftlich durchdrungen und in zwei Akte unterteilt. Der Kuss – im Grunde ein Symbol – ist Berührung, ein SichÖffnen in einer Welt, in der sich die Menschen zum Schutz einen Panzer zulegen.
Den Titel des Abends hat die Choreografin einem Stück von Aleksandra Vrebalov entlehnt. „A Kiss to the World“ist aber auch eine Verneigung vor Schillers Gedicht „An die Freude“und deren Vertonung durch Beethoven in der „Ode an die Freude“. In deren Chorgesang findet sich die berühmte Zeile: „Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!“
Der erste Akt ist experimentell, kühl, komisch, geometrisch. Er wird dominiert von Menschen in grauen Anzügen mit weißen Hemden. Man mag an die „Grauen Herren“in „Momo“denken. Aber die Anzugjacken haben ein rotes Innenfutter, rot wie Blut, rot wie das Herz, wie das Leben. Irritiert öffnen die Tänzerinnen und Tänzer immer wieder ihre linke Jackenseite, als würden sie auf ihr Herz schauen oder horchen. Sie sind eine hektische Masse, gemeinsam, einsam, anonym. Sie hetzen von links nach rechts, von rechts nach links, raufen sich die Haare. Immer wieder brechen Gefühle aus, Aggressionen etwa oder Zuneigung. Sie werden vom Rest misstrauisch beäugt. Ungewöhnlich: In diesem Tanz gibt es auch Sprech-Elemente. Einzelne Tänzerinnen und Tänzer dozieren über das Küssen. Sie tun dies kühl, akademisch, während andere sie umschlängeln oder demonstrativ und satirisch die Lippen spitzen.
Zu Mozarts 25. Sinfonie steigern sich die Mutausbrüche zur Rebellion. Die Menschen ziehen die Jacken aus. Sie entkleiden sich. Statt des geradlinigen Bühnenbildes mit Fensterkacheln wehen nun weiße
Tücher. Sie sind durchlässig, sie verhüllen und enthüllen. Zerbrechlich werden die Menschen plötzlich, sie verbinden sich innig, verlieren sich in einem leisen Popsong ineinander.
Der zweite Akt wird konventioneller, bunter. Die Kostüme der Tanzenden erstrahlen in Rottönen. Die Natur erobert sich die graue Zivilisation zurück. Äste und Blätter dringen durch Mauern und Fenster. Aus der Masse wird Gemeinschaft, manchmal erdig zu Trommeln, dann engelsgleich zu Sphärenklängen.
Menschen begegnen, umarmen, ja küssen sich, sie schmiegen sich in Gruppen aneinander. Doch auch das Begegnen birgt Gefahren, die Trauer etwa. Zu Samuel Barbers „Adagio for Strings“geht es um Trauer, um Abschied, bevor es in die feierliche Suite Nr. 4 von Händel übergeht, die wieder die Gemeinschaft feiert. Und auch wenn es in der Synchronität nach zwei getanzten Stunden leicht klappert, gelingen die großen Aufund Ab-Posen einwandfrei. Kann man es einen Erfolg nennen? Ja, bereits 15 Sekunden nach der Vorstellung steht das Publikum zum Applaudieren auf.
Dieser Ballettabend wäre nichts ohne seine Musik. Da gibt es Sphärenklänge, Minimalistisches der zeitgenössischen Komponistin Vrebalov, Haydns Klavierkonzert D-Dur, den Popsänger Patrick Watson, Beethovens 5. Klavierkonzert und Händel. Da korrespondieren Musikrichtungen, die sich sonst nie berühren.
Die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Katharina Müllner setzen das mit Bravour um. Alina Bercu (Solopiano), Gabriel-Sorel Bala (Soloviola) und – ebenfalls ungewöhnlich für ein Ballett – die Sopranistin Bogdana Bevziuk in einem tiefroten Kleid veredeln den Abend. Musik und Tanz schmiegen sich so ineinander, wie die Lippen zum Kuss. Mal traurig, mal komisch, mal kämpferisch, mal zärtlich, oft berührend, ein unerwartetes Hör- und Seherlebnis. Danke, Dominique!