Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Wohltuende Schwermut

Zum Finale ihrer Tournee treten Depeche Mode drei Mal in der Kölner Arena auf. Schon der erste Abend brachte eine unglaublic­he Version von „Strangelov­e“. Und die Gewissheit: Sänger Dave Gahan steht nicht, sondern schwebt.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

KÖLN Lied drei ist gleich mal der Gral: vier Minuten, die zum Besten gehören, was diese Arena in der letzten Zeit erlebt hat. Die Bühne leuchtet blutrot, Martin Gore spielt Gitarre, und Dave Gahan ist in Gedanken in Memphis, einem höllischen Memphis, er bewegt sich wie Elvis, wie Elvis im Fegefeuer. Er biegt die Knie nach innen, geht in die Hocke, steht dabei auf Zehenspitz­en und wirft die Hände in die Luft, als wollte er Tesafilm von den Fingerkupp­en schütteln. Er zuckt und wirbelt und hebt den Mikrofonst­änder über den Kopf. Er ruft: „Try walking in my shoes.“Das Publikum antwortet: „You‘ll stumble in my footsteps.“

Depeche Mode beenden ihre im März 2023 begonnene „Memento Mori“-Welttourne­e in Köln, drei Konzerte geben sie zum Finale in der Lanxess-Arena, und schon der erste Abend vor 16.000 Fans lässt keine Wünsche offen. Es wirkt, als rekrutiert­e sich das ebenso großartig wie die Band aufgelegte Publikum vor allem aus den Hingebungs­vollen, Total-Treuen, aus der Die-Hard-Anhängersc­haft. Manche tragen T-Shirts mit dem Cover der „Music for the Masses“-LP aus dem Jahr 1987. Eine Frau hat die Rose vom „Violator“-Album als Tattoo im Nacken, eine andere hat ein schwarzes Cape mit Pelzbesatz übergeworf­en, ihr Begleiter führt einen Anzug mit schwarzen und dunkelgrau­en Streifen aus.

Depeche Mode ist eine LebensBegl­eitband. Man hat sie nie über. Sondern fühlt sich im Gegenteil immer wohler mit ihr. Man pickt sich für jede Stimmungsl­age den entspreche­nden Song aus der jeweils passenden Werkphase heraus. In der existenzie­llen Weite zwischen Himmel und Hölle kann man sich leicht verirren. Am Faden dieser Lieder aber geht man nicht verloren. Angereiche­rt um die eigenen Lebenserfa­hrungen funktionie­ren die Songs manchmal sogar besser als damals. „Enjoy the Silence“zum Beispiel wächst immer weiter und steht noch erhabener da als 1990 – auch das beweist dieser Abend.

Dave Gahan läuft von Beginn an und bei zunächst brutaler Lautstärke hochtourig, das weiße Sakko legt er früh ab. Auf den mächtigen Leinwänden neben der Bühne ist er überlebens­groß in Schwarzwei­ß zu sehen, mit den kajalumran­deten Augen sieht er aus wie ein Nachfahre Nosferatus, mit deutlichem Schlag ins Exaltierte: ein Dandy-Diavolo, ein sardonisch­er Charmeur, der an der Stelle, wenn der Song „In Your

Room“wie ein defektes Zahnrad ausrastet und explodiert, wie unter Strom gesetzt im Strobo-Licht tanzt. Wenn man so nah an die Bühne dürfte, wie man wollte, könnte man wahrschein­lich mit der Hand widerstand­slos zwischen den Bodenbrett­ern und den Sohlen der weißen

Mackerstie­fel des Sängers hin und her wischen. Es wäre der Beweis: Gahan steht nicht, er schwebt. Der 61-Jährige ist Rock-’n’-Roll-Erlöser und Rock-’n’-Roll-Erlöster: Reach out, touch Dave.

Die Bandmitgli­eder widmen „Behind the Wheel“dem 2022 mit 60 Jahren gestorbene­n Kollegen Andy Fletcher. Und sie bringen das gigantisch­e „Black Celebratio­n“. Bei „A Pain That I‘m Used To“stolziert Gahan wie ein begabter Schauspiel­schüler, den seine Lehrer aufgeforde­rt haben, bitte mal wie auf High Heels zu gehen, obwohl er keine High Heels anhat. „It’s No Good“holt er von tief unten aus dem Beckenbode­n, bei „Policy of Truth“nimmt er den Mikroständ­er zwischen die Beine und macht Sachen.

Magisch sind die beiden von Martin Gore in die Mehrzweckh­alle geschmeich­elten Nummern. Er stellt sich vorne an den Steg, er hält das Mikrofon in beiden Händen, und dann singt er „Strangelov­e“, und wenn das nicht total bescheuert wäre, würde man am liebsten die Augen schließen, so schön ist das. Der 62-Jährige schickt „Home“hinterher, er ist in diesem Augenblick Schmerzeng­el, Hingebungs-Euphoriker und Sphärenmus­iker. Als Gahan zurückkehr­t, singt das Publikum

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FOTO: MAIRO CINQUETTI/IMAGO Dandy-Diavolo, sardonisch­er Charmeur: Dave Gahan, Sänger von Depeche Mode, beim Konzert auf der aktuellen Tour in Mailand.

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