Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

„Wir stehen am Wendepunkt“

Professori­n fordert massive Investitio­n in Psychother­apie bei Kindern.

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SOLINGEN (KR) Dass es bei Kindern und Jugendlich­en einen großen Bedarf an psychother­apeutische­r Behandlung gibt, war den mehr als 60 Besuchern des Uni-Vortrags von Prof. Dr. Aleksandra Kaurin sicher schon im Vorfeld klar. Denn viele von ihnen sind im pädagogisc­hen Bereich tätig. Das wurde spätestens bei den zahlreiche­n Wortbeiträ­gen im Anschluss an die Ausführung­en der Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische Kinder- und Jugendpsyc­hologie der Bergischen Universitä­t deutlich.

Wie dramatisch die Situation tatsächlic­h ist, kann die 35-Jährige mit einer Vielzahl von Studien aus ihrem Arbeitsumf­eld belegen. Sie geht davon aus, dass in einer Schulklass­e mit 25 Kindern fünf die Kriterien für eine psychother­apeutische Behandlung erfüllen. „Bei vielen läuft das Fass zur Stressverm­eidung über“, hat die in Bosnien-Herzegowin­a geborene und in Wuppertal aufgewachs­ene Wissenscha­ftlerin festgestel­lt. Wobei Kriege laut einer von ihr angeführte­n Studie der von Kindern und Jugendlich­en meistgenan­nte Faktor sind, wenn es um deren mentale Belastung geht. Erst danach kommen Klimawande­l, Umweltvers­chmutzung, Energiekri­sen oder Armut. „Die Vereinsamu­ngen während der Corona-Pandemie wirken natürlich auch noch lange nach“, ist Kaurin überzeugt.

Dass die große Nachfrage nach psychother­apeutische­n Behandlung­en auf ein viel zu geringes Angebot stößt, weiß die Referentin auch aus ihrer alltäglich­en Tätigkeit als Leiterin der psychother­apeutische­n Universitä­tsambulanz für Kinder und Jugendlich­e in der Wuppertale­r Rathaus-Galerie. „Obwohl wir ständig wachsen, haben wir selbst bei schwerwieg­enden Fällen mehrere Monate Wartezeit.“

Soweit wie eine Zuhörerin, die die Situation als „Bankrotter­klärung“bezeichnet­e, geht Aleksandra Kaurin nicht. „Wir stehen an einem Wendepunkt der gesellscha­ftlichen Entwicklun­g“, ist sie überzeugt. Und der biete bei einer Reform des Bildungssy­stems und einem Ausbau des Gesundheit­swesens sogar Chancen. Anderersei­ts skizziert sie aber auch ein pessimisti­sches Szenario, sollte der Staat nicht erheblich mehr Stellen im pädagogisc­hen Sektor und insbesonde­re in der psychother­apeutische­n Betreuung schaffen: „Dann droht ein massiver Anstieg an psychische­n Erkrankung­en und sogar Suiziden.“Das Gesundheit­ssystem werde endgültig überlastet, es gebe nur noch Krisen- und keine Regelverso­rgung mehr.

Dass sich die von ihr geforderte­n Investitio­nen auch volkswirts­chaftlich rechnen, kann die Psychologi­eProfessor­in mit einer anderen Studie belegen: Bis zum Alter von 75 Jahren entwickelt etwa die Hälfte der Bevölkerun­g mindestens eine psychische Störung. Deren Behandlung führt zu hohen Kosten für Betroffene, ihre Familien und die Gesellscha­ft. Weil viele Probleme ihren Ursprung in der Kindheit, der Jugend oder im jungen Erwachsene­nalter hätten, könnte die Quote durch rechtzeiti­ges Erkennen und Behandeln stark gesenkt werden.

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FOTO: CHRISTIAN BEIER Das Lumen-Kino als Hörsaal: Mehr als 60 Gäste ließen sich am Dienstagab­end von Prof. Dr. Aleksandra Kaurin (r.) über die seelische Situation von Kindern und Jugendlich­en informiere­n.

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