CATANIA
Tanz um den Vulkan
Im Südosten Siziliens gelegen, hat sich Catania nicht nur ein reiches geschichtliches Erbe, sondern auch eine tolerante Gesellschaft bewahrt. In den Bars und Klubs der Stadt stößt man auf eigenwillige Charaktere und eine bunte Szene.
„Natürlich ist Italien fast zu hundert Prozent katholisch. Hier haben sie noch vor weniger als fünfzig Jahren reine Leinentücher als Keuschheitsprobe vor die Türen gehängt. Und selbst in Neapel oder Rom glauben sie bis heute nicht, dass Sizilien der Geburtsort der schwulen Befreiung ist. Hier kann ich ungeniert Hand in Hand mit meinem Mann an der Kirche vorbeigehen. Niemand wird sich empören.“Giuseppe, in schwarzem Anzug und mit dunklem, zurückgegeltem Haar, empfängt uns in der gemütlichen Bar Buio. Der 24-Jährige stellt sich als zuständiger Manager und Catanier vor, während er uns persönlich die bestellten Getränke serviert. Noch ist der Raum leer, an den fünf Tischen sitzen nur zwei Frauenpaare, die meisten Gäste sind gut aussehende Männer, die in der engen, gemütlichen Gasse an Bartischen rauchen. Aus Erfahrung kommt der große Andrang erst später und er lässt in seiner ansteckend freundlichen Art nur knappe Lücken für die Übersetzungen. Untermalt wird unser Gespräch von Italopop und Stimmengewirr, wie es in fast allen Bars der Welt ähnlich klingt. Giuseppes Schwärmen für die südostsizilianische Stadt, die schon Römer, Araber, Griechen und viele Zerstörungen durch Erdbeben und Vulkanausbrüche erlebt hat, zieht mich in den Bann. Es ist, als liefe man auf seinen Sätzen direkt durch Catania. Alles spricht für seine Heimatstadt: die Geschichte, die sich in einer durch vielfältige Einflüsse unterschiedlichster Nationen geprägten Architektur widerspiegelt, und nicht zuletzt die ausgesprochen freundliche, weltoffene Atmosphäre. Ob wir den Fischmarkt schon besucht hätten, und die Piazza dell’università? Wir sollten auf keinen Fall versäumen, die Innenhöfe der zahlreichen Palazzi anzuschauen. Und natürlich müssten wir uns Zeit für die Kathedralen in der Via Crociferi und das römische Theater nehmen. Giuseppes Antworten auf eine einfache Frage, nämlich, weshalb
jemand ausgerechnet Catania besuchen sollte, kommen mir vor wie verwinkelte Gassen, wie geheime, unterirdische Gänge, in denen es ganz eigene Universen zu entdecken gilt. Und immer wohnt dem Namen der Stadt die Freundlichkeit, die Aufgeschlossenheit ihrer Bewohner inne. Giuseppe grinst: Kein Catanier verstünde die Frage, weshalb er sich in einer so katastrophengefährdeten Stadt zu Hause und keineswegs bedroht fühlt.
Er kennt die Szene in Palermo, Rom und Neapel gut, er war in Madrid und Barcelona, Amsterdam und New York. Weshalb er zurückgekommen sei? Ganz klar, nirgends habe er alles, was ihm wichtig ist, direkt vor der Haustür: schwule Freunde, Gay-treffpunkte genauso wie Kultur und internationales Publikum.
Ausgewogenes Verhältnis
Während des zunehmend aufgelockerten Gesprächs über die großen, stadteinnehmenden Gay-pride-paraden in Palermo und Catania redet Giuseppe sich fast ein wenig in Rage und kritisiert den seiner Meinung nach mangelnden Respekt seitens der Gay-community auf den CSDS. Etwas verschämt reagiert er auf meine Fragen nach Saunen, den Stripperbars und Cruising-areas. Ja, es gäbe viele Angebote diesbezüglich, sie seien nach ausgelassenen Strandpartys in Catania und dem fünfzig Kilometer entfernten geschichtsträchtigen Taormina die meistfrequentierten Orte. Er findet kritische Internet-stimmen diesbezüglich berechtigt, oft genug handle es sich um Touristen-nepp. Ihm sei an echten Bekanntschaften mehr gelegen als an schnellem Sex, aber das sei Geschmackssache. Nach seinem Coming-out befragt, taut er wieder auf. Seine erzkatholische Mutter habe ihm auf den Kopf zugesagt, dass er zu seinem Schwulsein stehen möge und nicht zum Geheimniskrämer mutieren solle. Anders als in Rom gefiele ihm in Catania das ausgewogene Verhältnis zwischen Schwulen und Lesben. Die Mietpreise, Gehälter, alles stimme für ihn hier. Dennoch seien viele seiner Freunde nach Spanien ausgewandert, denn die gerade erst 2016 genehmigte eingetragene Lebenspartnerschaft erlaube keine Adoption. Zum Glück könne er den Kontakt via Facebook zu den befreundeten Paaren, die sich ihren Kinderwunsch in Spanien erfüllt hätten, leicht aufrechterhalten. „Meine Heimat ist Catania und hier kann ich sein, wer ich bin. Ich habe meine Freunde und Menschen, die mir in schweren Zeiten helfen.“Auffallend oft nennt er, wenn es um sein Leben hier, seine nach vier Jahren tragisch gescheiterte Beziehung geht, fast ehrfürchtig einen Namen: Cristina Garofalo. Sie gilt als ungekrönte Ikone der Szene und hat im Laufe der vergangenen 25 Jahre nicht nur viel Leidenschaft, kräftezehrende, nervenraubende Arbeit in den Aufbau einer anerkannten und gut frequentierten Partyszene investiert, sondern auch vielen Bekannten und Freunden Jobs oder anderweitig Hilfe verschafft. Giuseppe will uns unbedingt den von Cristina aufgezogenen Klub Hangar22 zeigen. Wegen seines bevorstehenden Auftritts in einer Dragshow ist Giuseppe besonders aufgekratzt und lotst uns eloquent an den klischeehaften, muskelbepackten, Glatze tragenden Türstehern vorbei. Neben deren geklonten Pendants steht die 53-jährige, an beiden Armen tätowierte, E-zigarette rauchende Cristina Garofalo und mustert uns. Zunächst scheint sie skeptisch. Keine zwei Erklärungen später finden meine beiden Begleiterinnen und ich uns auf einem von einer tanzenden Menge gefüllten Dancefloor zwischen einer Bühne und einer, die Länge des riesigen Saals ausfüllenden, Bar wieder. Der Eintritt war bis 23 Uhr frei, das erklärt sicher auch, weshalb wir uns zwischen eng gedrängten, ausgelassen tanzenden und gut gelaunten Männern und Frauen hindurchzwängen müssen, um zur Bar zu gelangen. Beziehungsweise zur Kasse für die Bar, denn auch im Hangar22 gilt das italienische Bestellsystem: Man zahlt seine Bestellungen vorab und erhält diese gegen Vorlage des Kassenbons. In diesem Klub verdienten die Barmänner- und Frauen ihr Trinkgeld für die unglaubliche Coolness, mit der sie Cocktails namens „Wild“aus vier Flaschen gleichzeitig in den Mixbecher kippen, das Ganze galant durch die Luft wirbeln und das Gewünschte mit einer unnachahmlichen Nonchalance überreichen. Während wir versuchen, zur Bühne und damit zur Veranstalterin Cristina vorzudringen, werde ich immer wieder freundlich abgefangen. Paare, Freunde, junge und ältere, Zweierbeziehungen, Dreierkombinationen wünschen sich, fotografiert zu werden, küssen, posieren in den lustigsten Kombinationen, wollen das Foto noch nicht einmal sehen und tanzen dann, mir einen erhobenen Daumen zum Dank schenkend, einfach weiter.
Licht und Dunkel
Auf der beeindruckenden Bühne mit drei Etagen hat, von Laserstrahlen und Stroboskoplichtern verfremdet, die Tanzeinlage der Dragqueens begonnen. Ein fast zwei Meter großer Mann in schillernden Kleidern dreht seine Pirouetten um einen Transmann in spacigem Silberoutfit mit Michael-jackson-mundschutz und Lockenperücke. In dieser Nacht gab es, der Lautstärke und der späten Stunde wegen, kein Interview. Wir treffen die Vielbeschäftigte an einem Donnerstagabend in ihrer Bar Buio. Mit ihrer
schwarzen Lederjacke, schweren Silberkette, E-zigarette, silbergrauem Kurzhaarschnitt und einer große Brille pflegt Cristina ihr Motorrad-gang-image, das bei ihrem charmanten, offenherzigen Lächeln jedoch dahinschmilzt. Die ersten Partys plante Cristina mit einer Freundin an einem berühmten Schwulenstrand im Touristenort Taormina. Die gebürtige Syrakuserin, die der Liebe wegen nach Catania zog, erzählt leidenschaftlich: „Damals nannte man die Szene noch ‚transgressiv‘, die Begriffe ‚gay‘, ‚schwul‘ oder ‚lesbisch‘ kannte niemand. Und wir suchten Partyorte immer in kleinen, verwinkelten Nebenstraßen. Noch bis vor wenigen Jahren kamen die Gaffer in ihren Autos vor unseren Klubs und Bars vorgefahren, Beleidigungen und obszöne Pfiffe waren keine Seltenheit. Ich habe meine vor zwei Jahren gegründete Bar ‚Buio‘ genannt, weil das ‚dunkel‘ bedeutet. Und in der Dunkelheit findet man immer noch jemanden, der sich nicht ins Licht traut, außerdem sind wir im Dunklen alle schön und sexy.“Immer wieder, während sie eloquent und leidenschaftlich redet, wird sie, vor allem von Schwulen, mit Küsschen begrüßt – jeder will offenbar nah und befreundet mit ihr sein. Sie erzählt ohne Pause weiter, und gibt dennoch niemandem das Gefühl, ignoriert oder nicht wichtig zu sein. „Auch, wenn das Outing und offen gelebte Homosexualität heute in Sizilien für keinen und keine ein Problem mehr darstellt, wenn die Kirche und Familien, selbst die Nudelfirma Barilla ihre Hasstiraden zurückhalten, gibt es noch so viel zu tun. Immer wieder habe ich mit den Verpächtern der Partyräume zu kämpfen, sie machen Schwierigkeiten. Heute weniger wegen der Szene, sondern weil sie uns schröpfen wollen. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen.“Eine letzte Frage bitte ich noch zu übersetzen: „Was hat sie in all den Jahren am meisten, am tiefsten berührt?“Cristinas Lächeln übertüncht den Ernst der Antwort: „Dass ich vor einigen Jahren einen Tumor diagnostiziert bekam und doch noch eine Chance habe, das fortzusetzen, was ich am meisten liebe: meine Arbeit für die Community. Und in die glücklichen Gesichter meiner Gäste zu schauen.“■