Radikale Frischzellenkur
In knapp 300 Jahren ist Bachs Musik um keinen Tag gealtert. Das Geheimnis ihrer Zeitlosigkeit liegt wohl in ihrem metaphysischen Kern, ihrer durch strengste Ordnung erzeugten Freiheit. Sie ist daher weitgehend unabhängig von festen Klangvorstellungen. Jede neue Generation muss ihren eigenen Zugang zu diesem Wunderwerk musikalischer Logik finden und versuchen, eine neue Klangwirklichkeit zu kreieren: Dem 31- jährigen polnischen Pianisten Rafal Blechacz gelingt dies in seinem ersten BachAlbum auf faszinierende Weise. Er galt ja bisher als ausgewiesener Chopin- Spezialist und widmete als zweiter polnischer Gewinner des Warschauer Chopin- Wettbewerbs ( nach Zimerman) drei seiner bislang fünf Alben seinem großen Landsmann. So ist seine Hinwendung zu Bach jetzt durchaus überraschend und im Ergebnis sehr unbefangen und aufregend. Eine Hälfte des Programms wurde bereits 2012 in Hamburg produziert, die andere 2015 in Berlin: Trotzdem wirkt das Album wie aus einem Guss. Blechacz unterzieht da eine ganz persönliche Auswahl bekannter Stücke wie das Italienische Konzert oder die Partiten Nr. 1 und 3, aber auch weniger Bekanntes wie die Vier Duette oder die Fantasie und Fuge in a- Moll einer radikalen Frischzellenkur, wie man es seit Glenn Goulds Zeiten nicht mehr gehört hat. Selten klang Bach so aktuell, so modern, so erfrischend lebendig und punktgenau. Dabei nutzt Blechacz das ganze Arsenal von Anschlagsnuancen seines perfekt getunten Steinway, um weitgehend ohne Pedal die komplexen Strukturen Bachs in Charaktere, in pulsierende, glasklare Klangrede zu verwandeln und so den menschlichemotionalen Kern jedes einzelnen Stücks zum Leuchten zu bringen. Vor allem in den beiden Partiten arbeitet er mit raffinierten dynamischen Impulsen und Schattierungen die unterschiedlichen Tanzcharaktere der einzelnen Sätze he raus und verleiht ihnen choreografische Bühnenpräsenz. Mit Intelligenz, Sensibilität und Witz gelingt es ihm auch, die spröde Kontrapunktik der Vier Duette mit Leben und mit menschlichem Gestus anzureichern, dabei sich aber niemals in Szene zu setzen. Dennoch spürt man in jedem Moment seine tiefe Herzensaffinität zu Bachs Musik, die sich auch in einer geradezu empathischen Spielfreude und drängenden Tempi äußert. Es ist ein Bach ohne Perücke und Heiligenschein, stattdessen mit neuer Lebensenergie durchglüht – was sein Genie noch intensiver strahlen lässt.