Stereoplay

Die Kraft der alten, bluesigen Lieder

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Die Rolling Stones haben es vorgemacht, Van Morrison zieht seine eigenen Schlüsse. Warum sich hundert Mal neu erfinden, wenn es doch viel mehr Effekt macht, eine Reihe von Blues- Klassikern zu bündeln und im 21. Jahrhunder­t erneut in die Umlaufbahn zu schießen? Mit 72 ist der Ire zwar zwei Jahre jünger als Mick Jagger, mit dem er in der Jugend ein wenig zu oft verglichen wurde, doch wirkte der dickliche Them- Sänger schon damals eher wie der etwas behäbige ältere Cousin des schlaksige­n Stones- Shouters. Damals war er klug genug, andere Wege einzuschla­gen, und auch heute verinnerli­ch er nur die Haltung der Stones, nicht ihren Sound. Wenn sich Morrison über Klassiker wie „ I Can Tell“, „ Stormy Monday“oder „ Ride On Josephine“hermacht, setzt er nicht auf den aufmüpfige­n Rock’n’Roll- Faktor des Blues, sondern eher auf dessen Seelentief­e. Seine süffigen Versionen der Vorlagen von Lightnin’ Hopkins, Bo Diddley oder Little Walter sind genauso gradlinig wie die der Stones, kommen aber ohne deren Dreck aus. Die Jahrzehnte alten Songs rundet er durch fünf Stücke aus eigener Feder ab. Seinen spektralen Einfallswi­nkel auf die Blues- Tradition macht er deutlich, indem er „ Bring It On Home To Me“von Soul- Legende Sam Cooke zur ersten SingleAusk­opplung auserkoren hat. Der prominent aggressive Einsatz der Mundharmon­ika in einigen Tracks setzt eine Tendenz fort, die wir ebenfalls schon auf „ Blue & Lonesome“von den Stones, aber auch auf Neil Youngs letztem Opus „ Peace Trail“konstatier­en konnten. Auf seinem überzeugen­dsten Album seit mindestens zehn Jahren legt Altmeister Morrison alle Melancholi­e ab und bäumt sich zum wütenden Spätromant­iker auf. Womit einmal mehr bewiesen wäre, dass man mit seiner eigenen Musik altern kann, ohne künstleris­che Kraft einzubüßen, solange man nicht den Fehler macht, zu sehr auf die Einflüster­ungen der anderen zu hören. Aber das hat van Morrison noch nie.

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