„ Feuer aus dem Geist schlagen“
Nach 25 Jahren ist Evgeny Kissin zur Deutschen Grammophon zurückgekehrt, zu jenem Label, mit dem er noch als Teenager einige herausragende Alben produzierte, so etwa das Tschaikowsky- Konzert unter Karajan im Jahr 1988. Der heute 45- jährige Starpianist kann inzwischen auf eine mehr als 30- jährige Karriere zurückblicken, mit Aufnahmnen für alle großen Labels. Überraschenderweise hat er seine Rückkehr nicht mit einer Neuproduktion besiegelt; stattdessen hat er sechs KonzertMitschnitte aus den vergangenen zehn Jahren zu einem Doppelalbum gebündelt, die ihn an verschiedenen Schauplätzen rund um den Globus als Interpreten eines Komponisten dokumentieren, der in seiner Diskographie bisher keine große Rolle gespielt hat: Ludwig van Beethoven. Umso erstaunlicher, umso faszinierender ist die künstlerische Ausbeute dieser Kollektion von fünf Sonaten und den 32 c-moll- Variationen, die Kissin als einen überragenden Beethoven- Interpreten von unglaub licher Kompetenz und erschütternder Intensität ausweisen. Was einen von den ersten Takten der frühen, jugendlich- ungestümen C- Dur- Sonate op. 2,3 sofort in Bann schlägt und dann zwei Stunden lang nicht mehr loslässt, ist die einzigartige Kombination von atemberaubender Detailpräzision auf der einen und einer direkt aus dem Formprozess abgeleiteten Dramatik und er- zählerischen Sogkraft auf der anderen Seite, die den berühmten Spruch Beethovens, Musik müsse „ Feuer aus dem Geist schlagen“in rigorose Klangrede verwandelt. Dabei verschwindet Kissin selbst so sehr hinter der objektiven Kraft und Klarheit seiner funkenschlagenden Prägnanz, sodass man fast den Eindruck gewinnt, der musikalische Kontext vollziehe sich hier ganz von selbst ohne sein Zutun. Seine Energieschübe und grellen Kontraste wirken nirgends erzwungen, sondern völlig logisch und sinnfällig aus dem strukturellen Kontext entwickelt; Kissin setzt in Beethovens revolutionären Strukturen eine völlig neue Art von Leidenschaft und innerer Dramatik frei, die geistigen Ursprungs ist und nicht irgendwelchen Gefühlswallungen folgt. So klingt die „ Appassionata“trotz der vielen wilden Kontraste in einer Weise zwingend und erschütternd zu Ende gedacht, wie ich es so noch nicht gehört habe. Und nirgends eine Spur von Pathos oder Unklarheit. Kissin spielt immer mit offenen Karten. Mit diesem sensationellen Live- Konvolut hat er sich gleich in die erste Reihe der großen Beethoven- Spieler katapultiert, und jetzt möchte man von ihm den ganzen Beethoven hören.