Priesterin zur Zeit der Franco- Diktatur
In der Inszenierung von Àlex Ollé ist Norma keine Druidenpriesterin, sondern Anführerin eines christlichen Ordens. In einem Dickicht aus Kruzifixen hält sie die Messe ab und singt „ Casta diva“von der Kanzel. Währenddessen schwingt im Takt eine Kopie des mannshohen Riesen- Weihrauchfasses ( Botafumeiro) aus Santiago de Compostela über die Bühne. Kapuzenträger aus den Prozessionen der „ Semana Santa“( Karwoche), Unmengen von Priestern und Messdienern sowie Militärs mit dunklen Sonnenbrillen lassen keinen Zweifel aufkommen: Diese „ Norma“spielt nicht im antiken Gallien, sondern im Spanien zur Zeit der Franco- Diktatur. Gerade in den liturgischen Szenen gelingen Ollé herrliche Bilder; doch verlieren der Konflikt zwischen Galliern und Römern sowie die Zerrissenheit der Titelheldin durch diese Deutung an Schärfe. Jede Produktion von Bellinis „ Norma“steht und fällt mit der Sängerin der Titelrolle, die höchste und kaum miteinander zu vereinende Ansprüche stellt: große Ausdauer sowie eine ausgezeichnete Technik für die Gestaltung der Koloraturen und der lyrischen Passagen. Darüber hinaus ist eine Ausdruckspalette verlangt, die von sü- ßer Weltvergessenheit bis hin zu tiefster Verzweiflung reicht. In der Aufnahmegeschichte des Werkes ist Maria Callas diesen Forderungen am nächsten gekommen. Die in London für Anna Netrebko eingesprungene Sonya Yoncheva zeigt Defizite in puncto Koloraturfähigkeit, verfügt aber über die Autorität beim Rezitativ „ Sediziose voci“und über die Expressivität beim selbstlosen Verzicht in der Finalszene. Joseph Calleja hingegen lässt kaum Wünsche offen: Sein Pollione ist ein hochvirtuoses Portrait, in dem sich jede Note, jede Wendung aus der Handlung zu ergeben scheint. Sonia Ganassi legt sich als Adalgisa mächtig ins Zeug, neigt aber zu sängerischen Ungenauigkeiten. Antonio Pappano zelebriert förmlich die wunderbare Partitur, deutet sie ausgewogen, ausdrucksstark und farbenreich.