Ekstase der Genauigkeit
Natürlich ist es so, dass bei Mahler „ jakobinisch die untere Musik in die obere einstürmt“, wie Adorno formulierte: Vulgäres, Rohes, Brachial- Brutales bricht den Kultur- und Stilvorbehalt sublimierender musikalischer Hochsprache. Die verallgemeinernde Folgerung, die authentischen Ausdruck in Mahlers Musik nur der Gebrochenheit, dem in Anführungszeichen gesetzten Klangmaterial zuschreibt, hat die Mahler- Renaissance begleitet und seine Werke einem neuen Verständnis erschlossen, ist aber längst selbst zum Klischee erstarrt. Teodor Currentzis ist mit seiner Einspielung der Sechsten ausgezogen, dieses Klischee nicht wei- terzuschreiben, sondern Mahler eine Frischzellenkur zu verpassen. Er nimmt ihn sozusagen beim Wort, vertraut der Partitur – freilich nicht im buchhalterischen Kapellmeistersinn, sondern unter gebührender Hochdruckerhitzung dieser Fin- de- siècle- Sinfonik, deren polyphone Nervenstränge mit ungeheurer Transparenz durchglüht werden. Vom grummelnden Kontrabass- Rumor bis zu feinen Flötennuancen: Man hört, fühlt, erlebt und erleidet schlichtweg alles bei diesem staunenswerten Ensemble namens MusicAeterna, das einst als Originalklangtruppe angetreten ist und jetzt im groß- sinfonischen Format die traditionsphilharmonische Konkurrenz in die Schranken weist. Dabei setzt Currentzis weder auf schaumschlagende Show- Effekte noch stellt er in Teppichklopfer- Manier die Geräuschhaftigkeit heraus, sondern hält sich exakt an Mahlers dynamische und sonstige Angaben. Mit epischer Souveränität folgt er der Tempodramaturgie, die er allerdings im Seitenthema des Kopfsatzes ( dem „ Alma“- Thema) denn doch überdehnt. Dafür gibt artikulatorischer Feinschliff dieser klassizistischsten Mahler- Sinfonie scharfe Kontur, die Marsch- Komplexe federn in Aufbruchstimmung, statt dräuend die Katastrophe vorwegzunehmen. Die schlägt im Finale ein – mit umso gewaltigerer Fallhöhe nach nicht enden wollender Ekstase. Sony 19075822952 ( 84: 19)