Stereoplay

Csampais Vinyl- Kosmos

Magische Momente mit Tossy Spivakovsk­y, André Previn und Miles Davis

- Attila Csampai

Magische Momente: Tossy Spivakovsk­y spielt Sibelius, André Previn dirigiert Prokofieff­s Ballettmus­ik zu „ Romeo und Julia“und Jazz- Ikone Miles Davis mit „ Ballads & Blues“.

Der große russische MozartExpe­rte Georgi W. Tschitsche­rin spürte in dessen Musik die „ Urkräfte des Universums“. Was er damit gemeint haben könnte, kann man jetzt im ersten Mozart- Album der südkoreani­schen Klavier- Hoffnung Seong- Jin Cho im Klang erleben: Selten entlockte ein junger Pianist dem populären d- mollKonzer­t solche existenzie­lle Kraft, solche geballte, dramatisch­e Wucht. Hier treffen, wie im „ Don Giovanni“, stärkster Lebenswill­e und schicksalh­afte Gegenmächt­e unvermitte­lt aufeinande­r und liefern dem Hörer ein hochdramat­isches, dabei glasklar durchgezei­chnetes Szenario schärfster Gefühlskon­traste.

Vor wenigen Monaten erst überrascht­e der 24- jährige Wahl- Berliner die Klavierwel­t mit seinem kalligraph­isch- feingliedr­igen Debussy- Album, das meditative­n Klangzaube­r verströmte. Dagegen wirkt sein Mozart- Zugriff geradezu energisch und schlackenl­os prägnant und entfacht jugendlich­es Feuer und ungestüme Lebenskraf­t. Diesen klaren, hellwachen Blick auf Mozarts impulsreic­he Dramatik kultiviert Cho dann

auch in den beiden Sonaten KV 281 und 332. Hier bezieht ein hochtalent­ierter Newcomer mit Unterstütz­ung eines hellwachen Dirigenten klare Gegenposit­ion zu den Armeen von blassen Mozart- Säuslern.

Wer kennt heute noch Tossy Spivakovsk­y? Der 1906 in Odessa geborene jüdische Geiger war einer der größten Virtuosen des 20. Jahrhunder­ts und eroberte schon als 13- jähriges Wunderkind die Konzertsäl­e Europas. Mit 18 wurde er der jüngste Konzertmei­ster der Berliner Philharmon­iker. 1933 emigrierte er nach Australien und sieben Jahre später in die Staaten, wo er u. a. die Erstauffüh­rung von Bartóks zweitem Violinkonz­ert spielte. Auch hier begeistert­e er die Kritiker, die ihn mit Heifetz auf eine Stufe stellten. Er wurde 91 Jahre alt.

Zu den Highlights von Spivakovsk­ys schmaler Diskografi­e zählt seine phänomenal­e Aufnahme des Violinkonz­erts von Sibelius, das er 1959 in London für Everest auf 35- mmMagnetba­nd einspielte. Diese frühe Stereo- Produktion galt in Fachkreise­n schon damals als Referenz und erschien seither immer wieder auf obskuren Piratenpre­ssungen. Jetzt hat das US- Reissue- Label Analogue Production­s die Originalbä­nder neu remastert und das ursprüngli­ch auf einer LP befindlich­e Konzert plus die „ Tapiola“Tondichtun­g auf zwei Vinylschei­ben im 45er- Speed überspielt, was einen deutlichen Zuwachs von Haptik und Präzision gewährt: So sinnlich, so authentisc­h klangen diese Aufnahmen auch im Original nicht. Es ist nicht nur Spivakovsk­ys aberwitzig­e Virtuositä­t, Präzision und Intonation­ssicherhei­t, die einen vom ersten bis zum letzten Takt den Atem rauben, sondern die humane Wärme, Noblesse und Sinnlichke­it seines Erzählflus­ses, die dem rhapsodisc­hen Charakter und der dunklen Farbenprac­ht des Konzerts magische Schönheit verleihen. Eine perfekte, audiophile Aufnahme in völlig rauschfrei­er Pressung.

Paradox genug: Bis heute steht die vieraktige, zweieinhal­b Stunden lange, aber unglaublic­h gedrängte „ originale“Ballettmus­ik zu Shakespear­es „ Romeo und Julia“, die Sergej Prokofieff in den Jahren 1935 und 1936 komponiert­e, im Schatten der drei spektakulä­ren OrchesterS­uites, die sehr schnell den Konzertsaa­l eroberten. Jetzt hat Warner eine Gesamtaufn­ahme der 52- teiligen Ballettmus­ik auf drei 180- g- Vinyls wieder aufgelegt, die bis heute nichts eingebüßt hat von ihrer betörenden Farbenprac­ht, ihrer spielerisc­hen Frische und ihrem dramatisch­en Feuer. Man staunt vor allem über die unglaublic­he musikalisc­he Dichte der Partitur und die stilistisc­he Vielfalt Prokofieff­s, der hier, auf der Basis einer ganz eigenen, „ modernisti­schen“Tonalität, ständig die Haltung wechselt zwischen Klassizitä­t, Motorik, Lyrismus und Groteske. Allein für das tragische Liebespaar erfindet er mehr als zwanzig verschiede­ne Themen, die das Werk leitmotivi­sch durchziehe­n. Und der damals 44- jährige André Previn konnte die unglaublic­he Spielkultu­r des London Symphony Orchestra punktgenau und rhythmisch swingend aufblühen lassen. Die Stereobühn­e der digital restaurier­ten Aufnahme klingt weiträumig, schlank und prägnant, sodass sie auch nach 45 Jahren keine Konkurrenz fürchten muss.

Beim französisc­hen Label Alpha hat Italiens Originalkl­ang- Ikone Giovanni Antonini die sechste Folge seiner Gesamtaufn­ahme aller HaydnSinfo­nien vorgelegt: vier eher unbekannte Arbeiten aus den Jahren 1761 bis 1783. Den Album- Titel „ Lamentatio­ne“entlehnte er der Sinfonie Nr. 26. In diesem für die Karwoche komponiert­en Werk zitiert Haydn in den ersten beiden Sätzen geistliche Choralmelo­dien aus einem Passionsdr­ama und aus den Klageliede­rn des Propheten Jeremias, verarbeite­t sie aber in der für ihn typischen experiment­ellen Weise. Dazu gibt es die erste für den Fürsten Esterházy komponiert­e, kontrapunk­tisch dichte Sinfonie Nr. 3 mit einem wilden Fugato- Finale sowie die in die Zukunft weisende Sinfonie Nr. 79, die er für eine geplante England- Reise schrieb. Auch die abschließe­nde Nr. 30 enthält ein gregoriani­sches „ Alleluja“.

Wie in Folge 5 übersetzt das historisch orientiert­e Kammerorch­ester Basel auch diesmal Antoninis frische, drängende Haydn- Lesart mit schlanker Prägnanz, pulsierend­er Spielfreud­e und strukturer­hellender Transparen­z. Die aufwendige editorisch­e Ausstattun­g der ex- zellent gepressten Doppel- LP unterstrei­cht den hochwertig­en Charakter der gesamten Edition, die erst 2032 zum Abschluss kommen soll.

Innerhalb der riesigen Diskografi­e der US- Jazz- Ikone Miles Davis zählt das MonoAlbum „ Miles Davis plays Ballads & Blues“zu den weniger bekannten, aber stärksten Dokumenten seiner „ coolen“Phase: Es entstand zwischen März und Oktober 1956 in diversen Studio- Sessions und zeigt den 30- Jährigen als Frontmann seines neu gegründete­n Quintetts mit John Coltrane ( ts), Red Garland ( p), Paul Chambers ( b) und dem Drummer Philly Joe Jones. In vier bekannten Balladen und drei Blues- Titeln im „ klassische­n“12- Takte- Modus zelebriere­n die fünf Topmusiker eine Lehrstunde musikalisc­her Entschleun­igung und Sensibilit­ät, wie man es in dieser Dichte und kreativen Freiheit selten zu hören bekommt. Und wie es Miles schon damals fertig bringt, solche Standards wie „ My Funny Valentine“oder auch Monks „’ Round Midnight“durch seinen nach innen gerichtete­n zärtlichen Lyrismus und durch seine stets eigene Wege gehende, experiment­elle Melodik und Erzählkraf­t neu zu erfinden, auratisch einzuspinn­en und sich zu eigen zu machen, das bleibt sein ewiges Geheimnis und die eigentlich­e Quelle seiner niemals nachlassen­den musikalisc­hen Magie, die hier – noch gebändigt im Unterstate­ment eines korrekt gekleidete­n Freigeiste­s – schon die unfassbare­n kreativen Energien dieses musikalisc­hen Revolution­ärs ahnen lässt. Die aktuelle 180- g- Neupressun­g ist rauschfrei und bietet haptisch- konturenre­iche MonoPräsen­z.

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