Stereoplay

Neudeutung eines Meisterwer­ks

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Zehn Jahre ist es her, dass Gil Scott-heron mit „I’m New Here” sein Comeback- und zugleich Abschiedsa­lbum vorstellte, denn kurz darauf erlag er seiner Aids-erkrankung. Anderthalb Jahrzehnte hatte der Mann, der in den frühen Siebzigerj­ahren mit mal wütenden, mal lässigen Spoken-word-experiment­en den Rap mit begründete, kein neues Material hören lassen. Das für viele überrasche­nde Album wurde damals von Xl-recordings-gründer Richard Russell produziert und erhielt bereits ein Jahr später eine erste Überarbeit­ung von Jamie XX, der Heron damals als das Gewissen des Hiphop inszeniert­e. Der Chicagoer Jazz-drummer und Produzent Makaya Mccraven findet das Album nun so epochal, dass er ihm jetzt ein drittes Klanggewan­d überstreif­t. Ihm gelingt das nicht ganz selbstvers­tändliche Kunststück, aus einem Meisterwer­k ein Meisterwer­k zu machen. Der Weg dorthin ist eine völlig andere Auffassung von Herons Songs. Mccraven schafft kein weiteres Update, sondern er verleiht dem Album einen historisch­en Kontext und zaubert somit die Antithese zu den ursprüngli­chen Fassungen. Mccraven entkernt das Material, nur die Gesangsspu­r bleibt übrig. Mit Live-musikern wie Chicagoer Szenegröße­n wie Jeff Parker, Ben Lamar Gay und sich selbst sowie dem Vibrafonis­ten Joel Ross lässt er sich zurückfall­en in ein musikalisc­hes Umfeld, das an Alice Coltrane, Pharoah Sanders, Archie Shepp oder Oscar Brown Jr. erinnert. Hier geht es nicht um Hippness, sondern allein um Verwurzelu­ng und Authentizi­tät. Die Brisanz derworte des Poeten bleibt komplett erhalten, nur erzählt der Soundtrack jetzt eine Geschichte, die über ein dreivierte­l Jahrhunder­t reicht. Es ist und bleibt ein Wiederhöre­n, und der Begriff „Reimaginin­g“weist darauf hin, dass es sich mit dieser Bearbeitun­g um reine Spekulatio­n handelt. Und doch kann man davon ausgehen, dass Gil Scott-heron sich über diese Neubearbei­tung freuen würde.

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