Unbeugsam auf der Suche nach Wahrheit
Svjatoslav Richter (1915-1997) war neben Emil Gilels der bedeutendste und weltweit erfolgreichste Pianist der Sowjetära. Seine
Diskographie ist gigantisch und ungeordnet; er hat für diverse Labels aufgenommen, und zudem gibt es unzählige, meist inoffizielle Live-mitschnitte. Allein seine Chopin-aufnahmen listete John Hunt auf 23 Seiten (!), und es erscheinen immer wieder neue, obskure Kompilationen seiner einzigartigen Kunst. Neben seinen wegweisenden Deutungen der Werke Bachs, Beethovens und Schuberts haben vor allem seine rigorosen Chopin-interpretationen den damals gängigen Chopin-klischees eine klare Absage erteilt: Es sind Dokumente einer unbeugsamen Wahrheitssuche.
Das auf historische Reissues spezialisierte italienische Label Urania hat jetzt sämtlichen Balladen und Scherzi, dazu 13 (von 24) Etüden Chopins in ausgewählten Live-recitals Richters, die er zwischen 1959 und 1967 in Kiev, Prag und München spielte, in rauschfreiem digitalen Remastering
zu einem zweistündigen Special gebündelt. Es sind allesamt radikale, technisch brillante Statements von einer glühenden Intensität und einer überwältigenden Ausdruckskraft, die heutigen Chopin-interpreten schon wieder abhanden gekommen scheint, und sie enthüllen mit faszinierender Detailgenauigkeit das ganze Ausmaß an innerer Verzweiflung und wilder Rebellion, das dieser so empfindsame Komponist hinter der komplexen Schönheit und der perfekten Architektur seiner Charakterstücke verbarg. Es ist kaum zu fassen, welche vulkanischen Energien, welche Eruptionen an Leidenschaft, Stolz und Widerstand Richter selbst in den Etüden freisetzt, dabei persönlich völlig hinter den Notentext zurücktritt; wir vernehmen Chopins ungeschminkte Wahrheiten.