KLANGTIPP Virtuosität des Delikaten
Das „Große Tor von Kiew“klingt hier ausnahmsweise mal nicht wie vorweggenommener Stalin’scher Betonbarock. Denn Monumentalität ist bei François-xavier Roth und seiner Originalklang-hundertschaft Les Siècles ein Glanz von innen: luminos bei aller Wucht die Akkordpfeiler, sonor erleuchtet die tragende Modalharmonik. Und gleich zu Beginn schallt die Promenade nicht wie der Choral vom Turm, eher wie die Fanfare der Neugier.
Das und alles dazwischen gelingt den Interpreten kongenial zu Ravels Orchestrierung, die sich gerade nicht kongenial, sondern – wie jedes geniale
Arrangement – als kreatives Missverständnis zu Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“verhält. Die Timbrierung des originalen Klaviersatzes, die schlichte Periodik schon mal als wechselnde Farb-fata-morgana erscheinen lässt, verwandelt die Bild-beschreibungen in die Ausdruckssphären Ravel’scher Klang-obsessionen: träumerisch, spukhaft, surreal – oder auch luftig und duftig, wie beim „Markplatz von Limoges“, hier mit geradezu akrobatischer Eleganz ein Ausbund an quirligem Flair und Leichtigkeit. Diese Virtuosität des Delikaten und Farbechten, des Temperaments und der Transparenz gibt auch dieser jüngsten Folge von Roths Ravel-serie einen singulären Rang, über die Recherche nach dem Originalklang hinaus: Die verhangene Atmosphäre des „alten Schlosses“, die menschliche Dramatik des „Gnomen“, die Motorik der „Baba-yaga“werden tatsächlich aus den Nuancen und Impulsen der Komposition entwickelt statt bloß der angeworfenen orchestralen Beeindruckungsmaschinerie überlassen.
Gleiches gilt für „La Valse“, wo die finale Katastrophe nicht nur auf der Dezibelskala vermeldet, vielmehr im manisch übersteigerten, melodisch zerfetzten Dreivierteltakter zum Hör-ereignis wird. Zuvor: empathische Präzision für die Momente der mürben Dekadenz wie der frenetischen Erregung, mit sinnlicher Inbrunst und knackigem Biss im Blech.
harmonia mundi 905282 (44:15)