Zeit für die Magie der Zwischentöne
Es ist bereits das zweite Album des Duos Sylvie Courvoisier/mary Halvorson, doch genau genommen ist es das erste genuine Gemeinschaftswerk, weil es ausschließlich Stücke enthält, die speziell für diese Kombination geschrieben wurden. Die Gitarristin und die Pianistin haben den Lockdown genutzt und sich Zeit genommen. Zeit zum Schreiben, Proben und Elaborieren, und das hört man. Die kompositorischen Vorlagen sind nicht nur komplex, sondern die Umsetzungen sind ungemein fragil, präzise und detailversessen. „Searching For The Disappeared Hour“ist in dieser Hinsicht die Antithese zum herkömmlichen
Jazz-betrieb, in dem man eilig eine Session organisiert, dafür ein paar Skizzen schreibt und sich beeilt, aus dem Studio rauszukommen, um das nächste Projekt anzugehen.
Und die Mühe hat sich gelohnt. Es gibt ja nicht allzu viele Duos für Gitarre und Klavier, schon weil sich die beiden Harmonieinstrumente schnell ins Gehege kommen können. Pate für diese Aufnahme haben Bill Evans und Jim Hall mit ihrem Klassiker „Undercurrent“gestanden. Halvorson und Courvoisier haben völlig andere musikalische und soziale Hintergründe als ihre Herren Vorbilder, und doch tragen die beiden New Yorkerinnen den Zauber, der jener Session von vor fast 60 Jahren innewohnte, heute in ihre Umgebung. Für jeden Song setzen sie neue Parameter und treffen neue Verabredungen, um sich im stetigen Wechsel von Perspektiven und Stimmungen immer wieder gegenseitig zu überraschen. Wie „Undercurrent“ist auch „Searching For The Disappeared Hour“ein Meisterwerk einer Kammermusik, in der Komposition und Improvisation sich gegenseitig aufheben, wie auch die Konturen von Piano und Gitarre ineinanderfließen. Mit Hingabe und einer wertschätzenden Offenheit beherrschen sie die großen Gesten ebenso wie die beiläufigen Miniaturen. Jeder einzelne spielerische Augenblick ist von fundamentaler Bedeutung für das Gesamtwerk und will gehört und wiedergehört werden.
pyroclastic / bandcamp (59:21)