Arienshow mit Höhenflügen
Marc Minkowski lässt in seiner „Mitridate“-einspielung im Interesse beschleunigter Rezitativabwicklung ein antiquiertes Gattungsverständnis walten: Opera seria nicht als Drama, sondern als Wäscheleine, an der propere Arien-reizwäsche aufgeknüpft ist. Die strammen Striche in den Secco-zonen (auch zwei Arien müssen fallen) führen am Ende zur Groteske, wenn Mitridate einen Sterbensmonolog zu moribunden Cellotremoli haucht (die natürlich nicht in der Partitur stehen).
Im originalen Dialog nimmt sich das ganz anders aus und passt auch zur lapidaren Munterkeit des
finalen Ensemblesätzleins. Als Arienshow indes ist die Aufnahme hinreißend – auch orchestral. Anverve und Klangfülle dürften Minkowskis Musiciens dem Mailänder Uraufführungsorchester anno 1770 mit seiner Geigenfraktion fast inwagner-stärke nicht nachstehen, so man historischen Berichten Glauben schenkt. Die vokale Crew startet zu veritablen Höhenflügen, am beeindruckendsten Michael Spyres in der Tenor-titelrolle. Fulminant ist nicht nur seine Sprungsicherheit in den weiten Intervallen, sondern auch jene vom nobel reflektierenden Lyriker zum Wüterich, auf den ihn das Drama um erotische und politische Rivalität zwischen Vater und Söhnen alsbald festlegt. Mit pastelltönendem, fein nuancierendem Sotto voce modelliert Spyres das sensible Melos, zürnende Koloraturen lädt er zu Glutbändern auf, die staatstragenden hohen Cs trifft er mit kraftvoller Voix mixte.
Seine Zwangsverlobte Aspasia verfügt bei Julie Fuchs über eine geläufige Bravura-kehle mit mäßigem dramatischem Ausdruck, immerhin Konzentration aufs Innige im Gluck-nahen, verzierungsfreien „Pallid‘ ombre“. Elsa Dreisigs Sifare klingt intensiver in Timbre und Ausdruck, dem zweiten Sohn Farnace gibt der Kontratenor Paulantoine Bénos-djian als zuguterletzt geläuterter Intrigant kehlige Inbrunst. Sabine Devieilhe singt die Ismene mit schönster Reinheit und zeigt zugleich aufrichtigen Charakter.
erato/warner 0190296617577 (151 min., 3 CDS)