Nischni Nowgorod war einst genauso wichtig wie St. Petersburg und Moskau
In Nischni Nowgorod lernt unser Autor Robby Scholz auf seiner Russland-Reise neue und alte Facetten der Millionenstadt kennen, deren historische Bedeutung kaum hinter Moskau und St. Petersburg liegt.
NISCHNI NOWGOROD – Vor gut 50 Jahren hatte ich in der Schule gelernt , dass die Stadt Gorki nach einem sowjetischen Schriftsteller benannt wurde, eine Großstadt an der Wolga war und dass hier die legendären Wolga-PKW vom Band liefen. Dieses Minimalwissen führte dazu, dass ich keinerlei Vorstellungen von diesem Ort hatte, der heute Nischni Nowgorod heißt, und meinem Besuch dort mit Neugierde entgegensah.
Insofern war es beeindruckend, auf dem nicht enden wollenden Juri-Gagarin-Prospekt dem eigentlichen Stadtzentrum entgegen zu rollen und dabei rechter Hand von sowjetischen Plattenbauten und linker Hand von einem Freundlichkeit ausstrahlenden, riesigen seit 1944 bestehenden Kulturpark begleitet zu werden. Na gut, die Stadt hat heute knapp 1,3 Mio. Einwohner und deshalb sogar eine Metro, deren Strecke an einer Stelle auch den Fluss überquert.
Das auf einem Hügel liegende historische Zentrum liegt am Zusammenf luss von Wolga und Oka strahlt den Geist der vergangenen Jahrhunderte aus. Die strategisch günstige Lage führte 1221 zur Stadtgründung und in der Folgezeit trotz verschiedener Eroberungskriege von Mongolen, Tataren und Polen zur Entwicklung eines bedeutenden russischen Industrie- und Handelszentrums.
Durch die Verlegung einer Messe im Jahr 1817 nach Nischny Nowgorod begann ein sagenhafter wirtschaftlicher Aufstieg, der damals zu folgendem Ausspruch führte: „Petersburg ist der Kopf Russlands, Moskau sein Herz und Nischny Nowgorod seine Geldbörse“. Natürlich profitierten von den Reichtümern dieser Epoche nur wenige, wie zum Beispiel die Kaufmannsfamilie Stroganow, die sich nach dem Sieg des Zaren Ivan IV. über die Tataren hier ansiedelte und sich unter anderem mit der Erschließung des Gebietes bis zum Ural-Gebirge beschäftigte. Der Glanz ihrer Reichtümer konnte Not und Elend des sich aus ehemals Leibeigenen entwickelnden Proletariats nicht verbergen.
In dieses Milieu hinein wurde Aleksei Peskow oder wie er sich später nannte, Maxim Gorki (der Bittere), geboren. Berühmt gewordenen Werke, wie „Die Mutter“oder „Nachtasyl“beschreiben die soziale Lage der Arbeiter in dieser Zeit und sind noch heute oft gespielte Werke dieses größten Vertreters des sozialistischen Realismus, wie diese Stilrichtung im 20. Jahrhundert bezeichnet wurde. Obwohl er nie Mitglied der Partei Lenins und Stalins war, wurde er gefördert und zugleich instrumentalisiert. Sogar der Name seiner Heimatstadt wurde ihm zu Ehren
zu Lebzeiten geändert. Und das blieb bis 1990 so. Heute erinnert noch ein Museum in seinem ehemaligen Wohnhaus mit original erhaltenem Inventar an diesen berühmten Sohn der Stadt.
Bis zu dem am Anfang des 16. Jahrhunderts errichteten Kreml, der auch hier als Befestigungsanlage diente, war der Weg vom Museum aus gesehen nicht weit. Zunächst geht es auf der Spaziermeile bis zum wunderschönen Opernhaus an zwei- bis dreistöckigen Bürger- und Handelshäusern aus den letzten drei Jahrhunderten vorbei. Bei der Restaurierung hat man besonderen Wert auf den Erhalt die damals übliche russische Schriftsprache für die Werbetafeln gelegt.
Irgendwie hat man dadurch das Gefühl, sich in einer Kulisse für einen alten Film zu befinden. Hier am „Minin-undPoscharski-Platz“angekommen, gelangt man auf das Kremlgelände. Innerhalb der Mauern befinden sich heute Kultur- und Verwaltungsgebäude, ein sehenswerter Uhrenturm mit Glockenspiel sowie eine Kirche, in der Kusmin Minin seine letzte Ruhe fand.
Dann fällt die Kremlmauer dem Hang folgend steil bis zum Wolga-Ufer ab. Von hier aus hat man einen grandiosen Ausblick auf die weitläufige Landschaft sowie auf die Unterstadt. Das Ufer erreicht man über eine lange Treppe, die den Namen des hier in der Nähe geborenen sowjetischen Testpiloten Waleri Tschkalow trägt. Bildlich gesehen passt der Bezug hier zwischen Himmel und Erde gut. Die 9.130 km von Moskau nach Portland (USA) über den Nordpol schaffte er in 63 Stunden und wurde dafür 1937 mit dem Titel „Held der Sowjetunion“geehrt.
Und auf noch eine historisch bedeutende Persönlichkeit treffen wir beim Rundgang durch die Stadt: Andrei Sacharow, ein Physiker, der als Erfinder der sowjetischen Wasserstoffbombe gilt und später durch Proteste gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings und gegen die sowjetische Aggression in Afghanistan zum Dissidenten wurde. Dafür wurde er 1980 von der Partei in die Verbannung nach Gorki geschickt. Die Stadt war damals wegen der dort ansässigen Rüstungsindustrie eine „geschlossene
Stadt“. Seine Rehabilitation erfolgte erst 1986 unter Michael Gorbatschow. Symbolisch endete damit die Zeit der Dissidenten, denn fortan gab es nur noch Menschen „mit anderen Meinungen“.
Langsam plagte uns der Hunger und so besuchten wir zunächst eine „Piroschnaja“. Hier wird nach altbewährter Art Russlands ältestes Lebensmittel, die Pirogge, gebacken. Also ein Teigstück, das je nach Geschmack mit Kohl, Fisch, Kartoffeln, Marmelade oder Fleisch gefüllt sein kann. Das duftete verführerisch und so nahmen wir welche mit Himbeermarmelade und Fleischfüllung mit auf den Weg zum Hotel. Vorher ging es aber noch in eine Kneipe, so die exakte Übersetzung des Wortes „Traktier“. Tatsächlich war es ein gutbürgerliches Restaurant, dessen Ausstattung noch original aus der Zarenzeit stammte und auch in diesem Sinne geführt und präsentiert wurde. Ja, Teigtaschen (Pelmeni), Fischsuppe (Ucha) und Beef Stroganov kombiniert mit Wodka und Mors wurden so zu einem Genuss für den
Gaumen. Mors ist dabei eine Art Most, der je nach Bedarf frisch aus aufgetautem Beerenobst und dem Zusatz von Wasser und etwas Zucker zubereitet wird.
Am nächsten Tag stand dann erst einmal eine Seilbahnfahrt über die Wolga auf dem Programm. Wegen der wenigen Brücken spart man durch die Nutzung dieses Angebots fast 2 Stunden für den täglichen Weg zur Arbeit gegenüber dem Straßenverkehr - da erscheint auch der Fahrpreis von umgerechnet rund einem Euro angemessen.
In der Kabine saß auch eine junge Familie. Eines der Kinder fragte seinen Vater, ob wir französisch sprechen würden. Ich klärte das auf und schon sind waren im Gespräch. Tatsächlich war die Familie sehr offen und berichtete, dass sie in einer kleinen Stadt 60 Kilometer entfernt wohnt und arbeitet. Sie ist als Lehrerin und er als Programmierer tätig. Für das Projekt zum Bau ihres zweigeschossigen Eigenheimes haben sie von der Idee bis zur Fertigstellung sieben Jahre gebraucht. Dafür haben sie das sogenannte „Mütterkapital“vom Staat für ihre drei Kinder, gesammeltes Geld aus der Verwandtschaft und einen Bankkredit eingesetzt. Wegen des Landlebens haben sie drei modernere Autos, eins davon als Reserve und kommen nach eigener Darstellung mit ihrem Leben gut klar. Das einzige, worauf sie verzichten müssen und was ihnen tatsächlich fehlt, ist der jährliche Urlaub, in einem etwas weiter entfernten Ort und sie wünschen sich, weiterhin in Frieden leben zu können. Auch auf Nachfrage fällt ihnen nichts anderes dazu ein.
Inzwischen sind wir an diesem Sonntag in einem der vielen Industrieviertel der Stadt angekommen. Genauer gesagt auf dem Leninprospekt im Autowerkbezirk. Im Verlauf dieser Straße gibt es drei Metrostationen, die werktags für die Sicherstellung der Beförderung von bis zu 25.000 Menschen auf dem Weg zu ihrer Arbeit in das Autowerk benötigt werden. Vom Werktor grüßt noch immer der Hirsch das weltweit bekannte Erkennungszeichen der Marke „Wolga“. Flankiert wird es von riesigen noch aus sowjetischer Zeit stammenden Mosaiken mit zeitgenössischen Motiven.
Ansonsten stehen wir vor einer mehrere Kilometer langen Mauer, die das Werksgelände von der Straße und riesigen KFZ-Stellplätzen für Mitarbeiter trennt. An der anderen Straßenseite haben Verwaltung, Betriebsakademie und das Museum ihren Sitz. Begonnen hatte hier alles 1931, als die US-amerikanischen Fordwerke das Knowhow lieferten und an dieser Stelle in kürzester Zeit ein Werk mit samt sozialer Stadt aus dem Boden gestampft wurde, sodass bereits 1932 die ersten Autos montiert werden konnten.
Die Präsentation der Werksgeschichte und der ausgestellten Autos im Firmenmuseum lassen die Herzen nicht nur von Oldtimerfans höher schlagen. Zu sehen sind gerade im PKW-Bereich eine Menge von Prototypen, die niemals in die Produktion gegangen sind. „Leider“, meint mein Freund und Begleiter Igor. Und offensichtlich ist das auch gar nicht nötig, weil das Werk universell einsetzbare Kleintransporter, vergleichbar mit den VWTransportern, in Größenordnungen und in verschiedenen Versionen für staatliche Auftraggeber herstellt. Dazu kommen LKW und Busse sowie Kettenfahrzeuge für unwegsame Gebiete. Mit diesen Erkenntnissen und jeder Menge neuer Eindrücke verlassen wir Nischny Nowgorod und folgen der „M-12“weiter gen Osten.