Chaos im Kopf
Weil ihre Mütter in der Schwangerschaft nicht auf „ein Gläschen“verzichten wollen, kommen ihre Kinder mit schweren, oft unsichtbaren Schäden zur Welt. Pflegeeltern erzählen, was das bedeutet.
Tiefenentspannt ist nur Molli. Trampelnde Kinder und schlagende Türen lassen für Sekunden allenfalls die Augenbrauen der Labrador-hündin erzittern. Molli ist nicht zu erschüttern und damit in der Familie von Uli und Peter Altmann in Heidenheim gerade richtig. Ruhepole sind dort eine Kostbarkeit.
Philipp (Namen der Kinder geändert) sitzt im Kirschbaum. „Hallo, hier bin ich“, ruft er aus luftiger Höhe und winkt mit ein paar Kirschen. Unter ihm hofft die vierjährige Emma, dass er ihr einige davon zuwirft. „Hallo, hallo“, ertönt es wieder. Philipp buhlt um Aufmerksamkeit. Besuch im Hause Altmann ist für ihn Aufregung und Störung zugleich. Er verändert den Nachmittag – und das ist das letzte, was Philipp will. Der Junge braucht klare Strukturen und geregelte Abläufe. Wie seine beiden Pflege-geschwister leidet der Elfjährige an FAS, dem fetalen Alkoholsyndrom, einer Schädigung des Gehirns, die durch vorgeburtlichen Alkoholkonsum der Mutter verursacht wird.
Wie ein Blitz schießt der Junge die Treppen zu seinem Zimmer empor. Tausende kleine Legosteine sind über Boden und Tisch verstreut. „Das ist wie das Chaos in meinem Kopf“, sagt Philipp. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt einer mit blinkenden Scheinwerfern ausgestatteten Musical-bühne. Die hat er mit Legosteinen aus dem Gedächtnis nachgebaut. Das Spiel fesselt ihn – für Minuten. Dann muss er wieder rennen, toben, sich
Ich merkte, dass ich den Jungen gar nicht lenken konnte. Und dachte mir:
Was mache ich falsch? Uli Altmann
Pflegemutter
mit seiner kleinen Schwester zanken, bis sie weint, er selbst schreit und die Türen fliegen.
Für Uli (53) und Peter Altmann (68) ist das Alltag. Sie haben Emma, Philipp und die heute 15-jährige Hanna als Pflegekinder in ihre Familie aufgenommen. Hanna und Philipp waren damals jeweils wenige Monate alt. „Bei Philipp sagte man uns, er sei ein Drogenkind. Das hat uns nicht geschreckt“, erzählt Uli Altmann. Über die zusätzliche Schädigung durch Alkohol informierten die Behörden sie nicht. Seit 2001 haben Uli Altmann und ihr Mann, ein ehemaliger Rettungsassistent, 26 Pflegekinder kürzer oder länger im Haus gehabt. Jugendämter vermitteln Kinder an Pflegefamilien, wenn die leiblichen Eltern mit der Erziehung überfordert sind. „Ich wusste immer, dass ich mit vielen Kindern leben will“, sagt die Sozialpädagogin. Doch gerade Philipp stellt diesen Traum immer wieder auf die Probe.
Seine Auffälligkeiten bleiben lange ohne Namen. Der schmächtige Junge lernt verzögert zu laufen und zu sprechen. Später wird seine Energie undosierbar. Kleinigkeiten machen ihn aggressiv. Dann schreit er, beschimpft die Eltern in aller Öffentlichkeit. „Er braucht Impulse zwölf Stunden lang“, sagt Uli Altmann. Auspowern kann man ihn nicht. Nur Molli gibt ihm Ruhe. Ohne Angst und ohne Schmerzgefühl tobt Philipp durch die Räume. Ermahnungen prallen ab. Ein „Ja, ja“dann sind sie vergessen. Uli Altmann: „Ich merkte, dass ich den Jungen gar nicht lenken konnte.“
Ein Problem der Mittelschicht
Für sie und ihren Mann beginnen quälende Jahre. Was machen wir falsch? Warum dringen wir nicht durch? „Ich reise durch das Land, halte Vorträge zu Erziehungsfragen und scheitere an meinem Kind“, denkt die Pflegemutter. Eher zufällig hört sie von Behinderung durch Alkoholkonsum und erhält später von einer Fachärztin Gewissheit: Philipp leidet unter einer besonders schweren Form der Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD), dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS). Seine ältere Schwester Hanna ist ebenfalls geschädigt. Auch die kleine Emma, die Jahre später in die Familie kommt, ist durch den Alkoholkonsum der leiblichen Mutter gezeichnet. „Sie hat während ihrer Schwangerschaft regelmäßig Champagner getrunken und uns das auch gesagt, als wir Emma als Pflegekind abgeholt haben.“
Die Alkoholspektrumstörung ist vor allem ein Thema der mittleren und oberen Gesellschaftsschicht. Hier ein Glas Prosecco, dort ein Wein zur Entspannung. 10,6 Liter reinen Alkohol pro Jahr konsumiert jeder Bundesbürger ab 15 Jahren im Schnitt. Nur zwei von zehn Frauen verzichten in der Schwangerschaft ganz auf Alkohol. Manchmal empfehlen sogar Frauenärzte ein Schlückchen Sekt gegen den niedrigen Blutdruck. Die Folgen sind gravierend. 10 000 Fasd-kinder werden in Deutschland jedes Jahr geboren, davon geschätzt 2000 mit dem kompletten Spektrum an Schädigung.
Alkohol ist ein Zellgift, das ungefiltert über die Plazenta von der Mutter auf das Kind gelangt, erklärt Mirjam Landgraf, Neurologin beim Deutschen FASD Kompetenzzentrum Bayern. Die Mutter baut den Alkohol über die Leber ab, das Ungeborene ist dem Gift schutzlos ausgesetzt, Experten gehen davon aus, dass ein Embryo zehn Mal länger braucht, um Alkohol zu verarbeiten. Welchen Schaden dabei das Gehirn nimmt, hängt vom Reifestadium des Embryos ab, der Alkoholmenge und der Veranlagung der Schwangeren. Die Schädigung ist irreversibel. Kinder mit FASD leiden lebenslang.
Nicht immer ist die Beeinträchtigung durch eine flache Nasenbildung, kurze
Lidspalte oder konturlose Oberlippe sofort zu erkennen. Meist zeigen sich kognitive und soziale Auffälligkeiten erst nach Jahren. „Sie machen den Alltag mit den Kindern schwierig“, sagt Mirjam Landgraf. Fasd-kinder könnten die Folgen ihres Handelns oft nicht erfassen. Auch fehle vielen ein Unrechtsbewusstsein. Korrigieren lässt sich das nur schwer. Das liegt am Gehirn, es kann unterschiedliche Prozesse nicht in Verbindung bringen. Deshalb werden auch einfache Abläufe wie das richtige Anziehen von Kleidung zur Herausforderung.
Uli und Peter Altmann haben in ihrem Haus Zeichnungen aufgehängt. Sie zeigen, wie man Zähne putzt, sich anzieht oder duscht. Philipp hilft das. Hanna wiederum, die die 9. Klasse eines Gymnasiums besucht, hat den Tagesablauf in ihr Smartphone einprogrammiert. „Meine Tage sind komplett durchgetaktet“: die Zeit für Schule, für das Lernen, das Mittagessen, für Reiten, Singen, Fotografieren. Diese Struktur gibt ihr Sicherheit. Vieles andere kann Hanna nicht kontrollieren. Wenn sich wegen eines aus ihrer Sicht unpassenden Hinweises ihres Lehrers Frust aufbaut, beginnt sie zu schreien, reißt Tische um und wird wütend auf sich. „Dann rede ich nicht mehr, will nur noch ins Bett und schlafen.“
Da hilft auch kein Üben
Wer die 15-Jährige sieht, ahnt nichts von ihrer inneren Not. Locker erzählt das Mädchen von guten Leistungen in der Schule, vor allem in Deutsch, Religion, Geschichte, und ihrem Totalausfall in Mathematik und Physik. Fächer mit Zahlen kann sie nicht. „Die Lehrer sagen: ,Hanna, streng Dich mehr an’. Sie verstehen nicht, dass ich nicht mehr geben kann.“Da hilft auch kein Üben. In Hannas „Arbeitsspeicher“bleiben keine Zahlen hängen. Sie weiß, dass sie andere mit ihren Schwächen, vor allem aber mit ihren Stimmungsschwankungen vor den Kopf stößt. „Die verstehen mich nicht.“Sie sei eine Einzelgängerin. „Manchmal bin ich schon sauer auf meine leibliche Mutter. Warum hat sie mir das angetan? Diese Krankheit wäre zu 100 Prozent vermeidbar gewesen.“
Uli und Peter Altmann versuchen mit der permanenten Herausforderung zu leben. Oft stoßen sie auf Unverständnis, manchmal auch auf Vorwürfe, warum sie ihre Kinder nicht besser im Griff haben. Das alles mache einsamer, gesteht Uli Altmann, die als Fachkraft Fasd-vorträge hält. Weil Wissen über die „unsichtbare Behinderung“in Kindergärten, Schulen, Heimen und Jugendämtern oft fehlt, bleiben therapeutische Hilfe für die Kinder und Entlastungsangebote für die Eltern aus. „Diese Eltern leisten so viel und bekommen nur Steine in den Weg gelegt“, sagt Mirjam Landgraf.
Auch Uli und Peter Altmann stoßen immer wieder an ihre Grenzen. „Unser eigenes Leben ist ganz in den Hintergrund gedrängt.“Sie halten durch, weil ihnen „die Kinder so ans Herz gewachsen sind“. Und vielleicht auch, weil Molli ihnen ab und zu beruhigend um die Beine streicht. „Wir halten zusammen“, scheint sie zu sagen. Bisher ist ihre Botschaft noch immer angekommen.