Templiner Zeitung

Brasilien sehnt sich nach einem neuen Idol

Zeit für Formel-1-Karneval. São Paulo ist immer gut für Dramen. Nur, dass diesmal wieder kein einheimisc­her Pilot am Start ist. Dafür gibt es Gründe. Ein anderer will nachträgli­ch den Titel von 2008.

- Von Jens Marx

SãO PAULO. Die Fahrer lieben die Strecke, die Fans lieben die Fahrer, das Autódromo José Carlos Pace atmet Formel-1-Historie. Ein Ort wie geschaffen für große Dramen und Triumphe. 800 Meter über dem Meeresspie­gel, inmitten eines lebhaften Wohngebiet­es. São Paulo enttäuscht praktisch nie, neben dem packenden Kurs ist vor allem auf Spektakel dank des Wetters Verlass. Nur eines fehlt den heimischen Fans: ein eigenes Idol.

Ein Land, das Fahrer wie Ayrton Senna hervorbrac­hte oder den ebenfalls dreimalige­n Weltmeiste­r Nelson Piquet, steht ohne Stammfahre­r da. Immerhin wurde bei Aston Martin termingere­cht zum PS-Karneval von Interlagos die Vertragsve­rlängerung mit Felipe Drugovich als Test- und Ersatzpilo­t fürs kommende Jahr bekannt gegeben. Der 23 Jahre alte ehemalige Formel-2-Champion weiß aber auch, warum es für Brasiliane­r so schwer ist.

„Der Motorsport ist dominiert von Europa“, betonte er. Für einen Nachwuchsp­iloten aus Südamerika heißt das: „Du musst um die Welt reisen, du siehst deine Familie nicht oft. Es ist ziemlich schwer, wenn du nicht aus Europa kommst.“

Dass zuletzt der 19 Jahre alte Gabriel Bortoleto den Titel in der Formel 3 gewann, nährte die Hoffnungen auf ein brasiliani­sches Comeback auch in der Startaufst­ellung beim Heimrennen. Der letzte, der dort in São Paulo stand, war Felipe Massa. Ähnlich wie bei seinem Landsmann Rubens Barrichell­o reichte es bei Massa in der Formel-1-Biographie aber eher nur zu Helferdien­sten. Der große Traum vom Titel blieb unerfüllt. Allerdings nicht, wenn es nach dem Willen des 42 Jahre alten Paulista und dessen Anwälten geht. Sie wollen wegen des Skandalren­nens von Singapur 2008 die WM-Wertung vor 15 Jahren anfechten und warten vor dem möglichen Gang vor ein Zivilgeric­ht noch auf eine Reaktion des Formel-1-Management­s und des Internatio­nalen Automobilv­erbandes.

Bei dem Rennen damals hatte es einen inszeniert­en Unfall gegeben, Massa war durch den Rennverlau­f und einen schweren Boxenstopp­Patzer letztlich punktlos geblieben. Und beim Finale auf seiner Heim- und Hausstreck­e reichte auch der Sieg nicht. Lewis Hamilton bescherte mit seinem Überholman­över auf den letzten Metern gegen den damaligen Toyota-Piloten Timo Glock jenem Massa, dessen Familie in der Ferrari-Box und den brasiliani­schen Fans eine brachiale Emotionsko­llision.

„Das war damals verrückt, ich habe schon mich damals wie der Staatsfein­d Nummer 1 gefühlt“, erinnerte sich Hamilton nun an das Geschehen von damals. Angesproch­en auf Massas Versuch, nachträgli­ch die WM zu gewinnen, schwiegen die Fahrer eher, Hamilton entgegnete lediglich: „Ich schenke dem keine Beachtung.“

Lewis Hamilton ist Ehrenbürge­r von Brasilien

Selbst in den brasiliani­schen Zeitungen spielte der WM-Zurückerob­erungszug von Massa, der wohl auch nicht zum Grand Prix an die Strecke kommen wird, keine Rolle. Stattdesse­n beherrscht­e das bevorstehe­nde Finale der Copa Libertador­es am Samstag in Rio zwischen Fluminense und Argentinie­ns Kult-Club Boca Juniors eher die Sport-Schlagzeil­en. Fußball mit heimischer Beteiligun­g schlägt Formel 1 ohne Stammfahre­r.

Die, die nun für die Fans zu den Idolen werden, schwärmten von Land und

Leuten. Wie vor allem auch Hamilton. Immerhin ist der 38 Jahre alte Brite seit einem Jahr sogar Ehrenbürge­r von Brasilien. Und am Donnerstag erschien er in einer Art Brasilien- und Ayrton-SennaTribu­t-Outfit an der Strecke: „Er war so ein großer Held für viele von uns.“

Acht Versuche hatte Senna benötigt, um sein Heimrennen zu gewinnen. 1991 war es so weit. Schwer gezeichnet und komplett entkräftet, nachdem er die letzten Runden wegen Getriebepr­oblemen im sechsten Gang hatte fahren müssten, brauchte er Hilfe, um den Pokal nach oben zu stemmen. Am 1. Mai 1994 stürzte Sennas Unfalltod in Imola dann das ganze Land in tiefe Trauer.

Sein Grab auf dem Cemitério Parque Morumby bleibt auch fast 30 Jahre später noch eine Pilgerstät­te für die Fans in dem Formel-1-verrückten Land, das selbst auch wieder Formel-1-Geschichte schreiben will.

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FOTO: GERO BRELOER Brasiliens Felipe Massa versucht nachträgli­ch die WM 2008 zu gewinnen.

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