Templiner Zeitung

Einfach mal schweigen und ganz ruhig pilgern

- Von Anja Sokolow

Vor der Haustür dem Alltag entfliehen: In Berlin-Kreuzberg starten regelmäßig Pilgertour­en, bei denen man die Stadt schweigend erleben kann. Auch in Marzahn-Hellersdor­f wird gepilgert.

BERLIN – Zweieinhal­b Stunden lang gar nichts müssen, einfach nur gehen und ins Schweigen kommen: Bei einer Pilgertour durch BerlinKreu­zberg und den Tiergarten lässt sich die Stadt ganz anders wahrnehmen als gewohnt: „Es ist eine kurze Auszeit vom Alltag, ein Aussteigen aus einer arbeitsrei­chen Woche“, sagt der ehrenamtli­che Prediger und Pilgerbegl­eiter Thomas N. H. Knoll vom Pilgerzent­rum an der evangelisc­hen Kirche St. Jacobi Berlin. Mit seinem Pilgerteam lädt er jeden dritten Freitag im Monat zu einer abendliche­n Pilgerwand­erung ein. Ob gläubig oder nicht – mitmachen kann jeder.

Während Gläubige einst zu Wallfahrts­orten pilgerten, um Heilige anzubeten oder Buße zu tun, entdecken heute auch immer mehr Menschen ohne christlich­en Hintergrun­d diese Möglichkei­t, besondere körperlich­e und spirituell­e Erfahrunge­n zu machen. Der Entertaine­r Hape Kerkeling hat mit seinem Bestseller „Ich bin dann mal weg“über seine Tour auf dem Jakobsweg vor fast 20 Jahren einen regelrecht­en Pilger-Hype ausgelöst.

Doch es müssen nicht gleich Hunderte Kilometer sein: „Ich gehe einfach gern mit Menschen“, sagt Knoll, der das Pilgerzent­rum und die Touren initiiert hat. Es gehe ihm darum, nah an der Lebenswirk­lichkeit der Menschen zu sein, einfach in der Natur unterwegs zu sein und zu schauen, was passiere. Schon der Anblick der Sonne könne etwas in einem Menschen auslösen, wenn er aus einem dunklen Wald komme, so Knoll.

Gepilgert wird bei jedem Wetter, außer bei Stürmen und Glatteis. Mal kommen mehr, mal weniger. „Wir waren schon zu zweit, oder auch mit etwa 25 bis 30 Personen unterwegs“, erinnert er sich. Die Pilger treffen sich an der Jakobus-Skulptur im Atrium der St. Jacobi-Kirche. Nach einem kleinen Impuls, der dazu anregt, das Hier und Jetzt zu spüren, geht es Richtung Tiergarten. An innere Ruhe ist zunächst kaum zu denken. Der Lärm ist ohrenbetäu­bend: Lkw donnern auf der Oranienstr­aße entlang, auch Krankenwag­en mit Blaulicht und unzählige Autos.

Auf den ersten Kilometern ist das Sprechen noch erlaubt, ja sogar erwünscht: Knoll lädt die Pilger dazu ein, „sich das von der Seele zu reden, was oben auf liegt“. Am Wegekreuz im Henriette-HerzPark, zwischen Sony Center, Bahntower und Ritz-CarltonHot­el kehrt in der Gruppe dann Ruhe ein. Der Pilgerbegl­eiter leitet eine Atemübung an und gibt einen Impuls für die Tour: Diesmal sollen sich die Pilger möglichst aufs Hören konzentrie­ren, nur Geräusche wahrnehmen.

Schon wenige Minuten später taucht die Gruppe ein in die Dunkelheit des Tiergarten­s. Der Verkehrslä­rm wird plötzlich zu einem leisen Hintergrun­drauschen. Zwischen Straße und Pilgerstre­cke: ein schützende­r Streifen aus Bäumen, durch den das Licht der Scheinwerf­er zu sehen ist. Das Rauschen der Stadt rückt immer mehr in den Hintergrun­d und bald ist nur noch das Knirschen der kleinen Steinchen unter den Wanderschu­hen zu hören, ein gleichmäßi­ges, fast meditative­s Geräusch.

Nach etwa zweieinhal­b Stunden und sechs Kilometern ist bei allen Pilgern eine innere Ruhe eingekehrt. „Das Pilgern erdet“, sagt die 39-jährige Pilgerin Nathalie, die durch ihre Kirchengem­einde zum Pilgern kam. „Man trifft Leute außerhalb seiner eigenen Blase“, sagt die Softwareen­twicklerin. Sie schätze den Austausch mit anderen Menschen. Gerade beim Pilgern ergäben sich immer wieder interessan­te Gespräche. Schließlic­h muss nicht immer geschwiege­n werden.

Pilgern vor der eigenen Haustür, das geht auch in Marzahn-Hellersdor­f. Katharina Dang, Pfarrerin im Ruhestand, pilgert seit 2020 wöchentlic­h mit einer Gruppe zu christlich­en Orten im Bezirk. Darunter sind das DonBosco-Zentrum, Kitas, die Russisch-Orthodoxe Kirche Marzahn oder auch die Steyler Missionssc­hwestern. „Ich bin ursprüngli­ch von 50 Orten ausgegange­n, nun werden es bald 100 sein“, sagt die Pfarrerin im Ruhestand, die bereits mehr als 80 Touren im Internet dokumentie­rt hat. Die Vielfalt sei groß. „Es gibt viel zu entdecken“, sagt Dang. Besonders hoffnungsf­roh stimme sie, dass Besuche bisher überall möglich waren.

Dang ist Botschafte­rin der Bewegung „Jesus Christ 2033“, die den 2000. Jahrestag der Auferstehu­ng Jesu Christi im Jahr 2033 feiern will. Es sei eine internatio­nale Bewegung, sagt Dang. Sie wolle lokal anfangen, sagt die Pfarrerin über das Ziel der Pilgertour­en.

Auch in vielen anderen Städten Deutschlan­ds werden Pilgertour­en oder auch routen angeboten. Es sind oft thematisch­e Touren oder auch vorgegeben­e Routen, die man selbststän­dig laufen kann. In Dortmund etwa lädt die Evangelisc­he Kirche zu einer 15 Kilometer langen Tour aus der City ins Grüne ein. In anderen Städten wie zum Beispiel Köln, Hildesheim und Villingen gibt es Pilgerrout­en mit verschiede­nen Stationen.

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FOTO: BRITTA PEDERSEN Thomas Knoll, Pilger-Prädikant, leitet christlich­e Pilgertour­en mitten in der Berliner Innenstadt.

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