Forscher sehen beginnende Deindustrialisierung in Deutschland
Ausländische Unternehmen investieren immer seltener in der Bundesrepublik, deutsche immer öfter im Ausland. Wirtschaftsforscher sehen darin erste Anzeichen einer Deindustrialisierung. Sie warnen vor einer dramatischen Beschleunigung dieser Entwicklung, die sich negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirkt.
BERLIN/KÖLN – Die Netto-Kapitalabflüsse aus Deutschland haben im Jahr 2023 zum dritten Mal in Folge einen dramatisch hohen Wert erreicht. Dies geht aus einer jüngst veröffentlichten Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) hervor. Insgesamt lagen die Netto-Abflüsse im vergangenen Jahr bei 94 Milliarden Euro. Mit Ausnahme der Jahre 2021 und 2022 ist dies der höchste Wert seit Beginn der Datenerhebung im Jahr 1971. Im Jahr 2021 flossen netto 100 Milliarden Euro aus Deutschland ab, der historische Höchstwert von 125 Milliarden Euro wurde im Jahr 2022 erreicht.
Studienautor Christian Rusche sieht in diesen Zahlen „erste Symptome einer Deindustrialisierung“in Deutschland: „Diese geballte Häufung an Netto-Abf lüssen in den vergangenen Jahren zeigt, dass es sich jeweils nicht nur um Einzelfälle oder Nachholeffekte gehandelt hat, sondern eine tiefergehende Entwicklung vermutet werden kann oder sogar muss.“Ein weiteres Indiz für eine aufkommende Deindustrialisierung sei, dass die Produktion im produzierenden Gewerbe im Dezember 2023 deutlich unter den Werten des Jahres 2015 gelegen habe, so IW-Experte Rusche.
Warum sind diese Zahlen erschreckend? Der Netto-Kapitalfluss ist die Differenz zwischen den Direktinvestitionen
ausländischer Unternehmen in Deutschland und den Direktinvestitionen deutscher Unternehmen im Ausland. Direktinvestitionen sind zum Beispiel Firmenübernahmen, Neugründungen, Fabrikbauten oder andere Arten von Reinvestitionen. Anders als kurzfristig orientierte Konjunkturprognosen gewähren diese Zahlen einen recht zuverlässigen Blick auf die kommenden Jahre und Jahrzehnte, da sie zeigen, wie attraktiv der Wirtschaftsstandort für deutsche wie ausländische Unternehmen ist. Fließt zu viel Kapital ab, ist das ein langfristiges Problem, da es sich bei Direktinvestitionen um strategische unternehmerische Entscheidungen handelt, die auf lange Zeithorizonte ausgerichtet sind.
Netto-Kapitalabflüsse wirken sich deswegen nachhaltig negativ auf das Wirtschaftswachstum, die Arbeitslosenzahlen, die Tragfähigkeit des Sozialstaats und damit auf das gesamtgesellschaftliche Gefüge aus.
Hinweis auf ungünstige Standortbedingungen
Im Zuge von Corona-Pandemie, Lieferkettenproblemen und den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten waren die Direktinvestitionen in den vergangenen Jahren weltweit rückläufig. Allerdings kann dies die hohen Kapitalabf lüsse aus der Bundesrepublik nicht erklären. Im Gegenteil: Innerhalb der EU sind die Direktinvestitionen zuletzt gestiegen, in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 sogar um 120
Prozent. Und ein nicht unerheblicher Teil dieser Investitionen stammt aus Deutschland: Rund 90 Milliarden Euro, also etwa zwei Drittel aller Auslandsinvestitionen deutscher Unternehmen, flossen zuletzt in EUMitgliedsländer, vor allem in die Benelux-Staaten und nach Frankreich, so IW-Studienautor Rusche. Umgekehrt investierten ausländische Unternehmen kaum in Deutschland, im Gesamtjahr 2023 f lossen lediglich 22 Milliarden Euro in die Bundesrepublik – so wenig wie seit zehn Jahren nicht mehr. Rusche sieht darin einen „Hinweis auf die ungünstigen Standortbedingungen im globalen Wettbewerb.“
Tatsächlich verzeichnete Deutschland im Jahr 2022 unter allen OECD-Staaten die höchsten Abflüsse. In den ersten neun Monaten des Jahres 2023 wurde die Bundesrepublik von Japan überholt und liegt im Negativranking der Netto-Kapitalabf lüsse auf dem zweiten Platz. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass die Ursache hierfür nicht in der relativen Standortattraktivität, sondern im Zinsmarkt zu suchen ist: Denn während die EZB die Zinsen ab Ende 2022 stark anhob, blieb die Zinswende in Japan praktisch aus. Somit sind Anlagen außerhalb Japans zunehmend attraktiv, was zu einem Abfluss von Kapital führt. „Die Politik macht es für Unternehmen alles andere als attraktiv, in Deutschland zu investieren“, resümiert IW-Ökonom Christian Rusche.
Was müsste getan werden, um die deutsche Standortattraktivität zu verbessern? Die Deutsche Industrie- und Handelskammer hat zum Jahresbeginn eine Umfrage unter ihren Mitgliedsunternehmen durchgeführt, um die wichtigsten Baustellen der deutschen Wirtschaft zu identifizieren. Das Ergebnis: 60 Prozent der Firmen zählen die Energie- und Rohstoffpreise in Deutschland zu den drängendsten Problemen, 57 Prozent die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, 56 Prozent den Fachkräftemangel, 55 Prozent die Inlandsnachfrage und 53 Prozent die Arbeitskosten. Die Politik müsste diese Punkte nun abarbeiten.
Wichtigster Faktor sind die Energiekosten: „Anstatt zunehmend Kraftwerke ohne adäquaten Ersatz abzuschalten, wie erst zu Beginn dieses Monats, würde ich erst abschalten, wenn wirklich auf die Kraftwerke verzichtet werden kann“, sagteIW-Ökonom Rusche dem Nordkurier. Bei den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen bestehe ebenfalls Verbesserungsbedarf: Zum Beispiel wurden die Förderungen bei der Sanierung von Wohngebäuden und von E-Mobilität „quasi über Nacht gestrichen“, der CO2-Preis werde „über das Wochenende variiert“. „Hier gilt es, langfristig verlässliche Rahmenbedingungen zu setzen“, betont Rusche. Zudem könnten die Steuern für ältere Arbeitnehmer sinken oder ganz gestrichen werden, zusätzlich müsste ein Bürokratie-Entlastungspaket für Bürger, Unternehmen und die Verwaltung geschnürt werden. Ohne Sofortmaßnahmen hingegen sieht es düster aus: „Bleiben die politischen Rahmenbedingungen so, wie sie sind, könnte sich die Deindustrialisierung stark beschleunigen“, prognostiziert Rusche.