Mehr Neonazis marschieren auf
Die Zahl der rechtsextremen Demonstranten ist deutlich gestiegen
Berlin/Ostritz.
Wie selbstbewusst Neonazis in Deutschland ihren Hass zeigen, belegt eine Szene im kleinen Ort Ostritz in Sachsen. Der NPD-Politiker Thorsten Heise lud dort zum „Schild & Schwert“-Festival ein, kurz: SS. Rechte Bands spielen im Hotel Neißeblick. Am Souvenirstand hängen T-Shirts auf einem Kleiderständer – in Hakenkreuzform. Die Motive: „Braun auch ohne Sonne“oder die Abkürzung „HKNKRZ“– Hakenkreuz. Für fünf Euro verkauften sie auch eine Broschüre, in der Neonazis empfohlen wurde, Fotografen mit Gewalt an ihrer Arbeit zu hindern. Sie sollten sich auf Notwehr berufen. 700 Rechtsextremisten kommen zu dem Festival, es ist die zweite Großveranstaltung in Ostritz allein in diesem Jahr.
Die Rechten belagern einen Ort – sie demonstrieren hier, gedenken Adolf Hitler, sammeln sich vor Konzertbühnen. Und Ostritz ist nicht der einzige Ort. In Chemnitz und Köthen gingen Rechtsradikale zuletzt auf die Straße, aber auch in Dortmund, Hamburg und Berlin. Erstmals seit Sommer 2016 steigen die Teilnehmerzahlen von NeonaziAufmärschen wieder – im Vergleich zum Vorjahreszeitraum haben sie sich im dritten Quartal 2018 sogar mehr als verdoppelt. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Von Juli bis September organisierten Neonazis 23 Protestmärsche, Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen. 7614 Rechte schlossen sich insgesamt an. Im gleichen Zeitraum 2017 waren es 3040.
Und allein in Chemnitz nahmen im August und September dieses Jahres bei sieben Kundgebungen der fremdenfeindlichen Gruppe „Pro Chemnitz“insgesamt 19.700 Menschen teil. Es flogen Steine und Flaschen, auch Gewalttaten wie gefährliche Körperverletzung verfolgt die Polizei. Die meisten Straftaten gehen auf das Konto von Neonazis, darunter das Zeigen von Hitler-Grüßen und Zeichen von verbotenen Organisationen. Im Zuge der Ausschreitungen kam es auch zu einem Angriff auf das jüdische Restaurant Schalom. Zu einigen der Demonstrationen in Chemnitz kamen laut Behörden „bis zu 30 Prozent der Teilnehmer aus dem rechtsextremistischen Spektrum“– doch stuft die Regierung die Protestmärsche nicht als Kundgebung Rechtsextremer ein. Ulla Jelpke, Linksfraktion
Die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Ulla Jelpke, warnte davor, dass „rassistische Stimmungsmache von CSU und AfD“den Neonazis Zulauf bescheren würde. Zugleich hob Jelpke hervor: „Die Ereignisse von Chemnitz lassen den Unterschied zwischen Nazis und Wutbürgern zunehmend verschwimmen.“
Der „Kampf um die Straße“ist seit vielen Jahren eine Strategie der extremen Rechten. Immer wieder rufen Organisationen oder Parteien wie die NPD, „Die Rechte“oder „Der III. Weg“, aber auch Kameradschaften und „Autonome Nationalisten“zu Protestmärschen auf. Großevents wie in Ostritz und Rechtsrock-Konzerte wie im thüringischen Themar finanzieren die Szene – und stärken sie zugleich. Neonazis rekrutieren dort neue Mitglieder.
Als ab 2015 mehrere Hunderttausend Menschen nach Deutschland flohen, bekam die extreme Rechte einen gewaltigen Schub. 2015 nahmen laut Behörden fast 60.000 Rechtsextremisten an Protesten teil, 2016 waren es noch fast 30.000. Nachdem der Zuzug von Migranten und Flüchtlingen zurückging, nahmen auch rechte Aktionen ab. Doch die Ausschreitungen in Chemnitz haben gezeigt, wie schnell die Szene ihre Anhänger mobilisieren kann.
Und die Zahl der Teilnehmer auf rechtsextremen Aufmärschen – die Chemnitz-Proteste nicht dazugezählt – steigt erstmals seit Sommer 2016 wieder. Nach den Angaben der Polizei nahmen von Januar bis Ende September 2018 insgesamt rund 15.264 Rechtsextremisten an Kundgebungen teil. 2017 protestierten demnach insgesamt rund 11.285 Neonazis auf deutschen Straßen und Plätzen.
Die Antwort der Bundesregierung zeigt, dass die allermeisten Neonazi-Aufmärsche in Ostdeutschland stattfinden, vor allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Doch auch in Dortmund, Berlin und Hamburg demonstrierten Rechtsextremisten im dritten Quartal 2018. An diesem Freitag, dem 80. Gedenktag der Reichspogromnacht, sind Demonstrationen in Chemnitz und Berlin geplant. Auch mehr als 70 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus treten Rechtsextreme selbstbewusst in Deutschland auf.
„Unterschiede zwischen Nazis und Wutbürgern verschwimmen.“