Giselles Tanz in den Wahnsinn
Silvana Schröder inszeniert das romantische Ballett als schockierendes Psychogramm einer gequälten Seele. Viel Beifall für die erste Premiere des Thüringer Staatsballetts im Theater Erfurt
Erfurt/Gera.
Silvana Schröder, seit 2013 Chefin des Thüringer Staatsballetts am Theater Altenburg-Gera, ist bekannt für ihre ganz eigene wie eigenwillige Sicht auf berühmte Ballettklassiker. In ihrer SchwanenseeAdaption „Schwarzer Schwan“interessiert sie vor allem Odile, die als missbrauchtes Opfer selbst zur Täterin wird. In Prokofjews Romeo und Julia („Mercutios Geheimnis“) steht nicht Romeo, sondern dessen Freund Mercutio im Mittelpunkt.
In ihrem neuen Ballettabend wagt sich Silvana Schröder nun an das romantische Ballett „Giselle“zur Musik von Adolphe Adam nach einer durch Heinrich Heine überlieferten Sage von Geisterwesen, die in der Nacht treulose Männer zu Tode tanzen. Samstagabend feierte die erste Koproduktion mit dem Theater Erfurt Premiere in der Thüringer Landeshauptstadt. Eine Premiere, die berührte, schockierte, wenig Romantisches hatte und vom Publikum dennoch mit viel Applaus bedacht wurde. Silvana Schröder ist ihrem besonderen Blick auf Tradiertes treu geblieben und inszeniert „Giselle“überzeugend als schockierendes Psychogramm einer gequälten Seele.
Das ahnt man schon, als vor der Ouvertüre das liebliche Wiegenlied von Brahms erklingt, mit dem noch heute Kinder in den Schlaf gesungen werden.
Danach allerdings ist Schluss mit lieblich, denn bereits die Bühne (Verena Hemmerlein) gibt den Weg vor, den diese Giselle gehen wird.
Ein graues Zimmer, mit Bett, Schrank, Stühlen spärlich eingerichtet, sorgt für beklemmende Gefühle. In einer Ecke spielt ein kleiner Junge, eine schwarz gekleidete Frau, bei Silvana Schröder verstorbene Mutter und Myrtha zugleich, wacht auf einem Stuhl. Und Giselle, isoliert von der Außenwelt, einsam und verloren in ihrem Bett, gibt sich Tagträumen hin und wird von Erinnerungen heimgesucht. Einzig das Tanzen und die schwärmerische Liebe zu Albrecht bestimmen ihr Leben. Dabei verliert sie nach und nach den Bezug zur Wirklichkeit, fühlt sich in ihrer Scheinwelt von Mutter/Myrtha und Bruder Hilarion bedroht und erkennt nicht, dass Albrecht keine Liebe, sondern Freundschaft für sie empfindet. Was passiert mit einem Menschen, der sich um seine Träume betrogen fühlt und seine Leidenschaft nicht leben kann? Bei Silvana Schröder führt Giselles Tanz, bedrängt von Myrtha und deren Schatten, konsequent in den Wahnsinn. Am Ende des 1. Aktes zersticht sie sich ihre Füße. Der 2. Akt, in dem sogar das Zimmer Kopf steht, wird zum blutigen Rachefeldzug gegen alle, die ihre Träume zerstört haben. Das Opfer wird zur brutalen Täterin.
Daria Suzi tanzt Giselle leidenschaftlich und ausdrucksstark. Fast zwei Stunden beherrscht sie die Bühne, als naives,verwirrtes Mädchen, als liebende Frau und als furchterregender Racheengel. Großartig! Filip Kvacak als Albrecht begeistert im Duett mit ihr und in seinen Soli vor allem technisch, und auch Vinicius Leme als Bruder Hilarion interpretiert seine Rolle als sorgender Bruder überzeugend. Mit einer Glanzleistung als Myrtha/Mutter brilliert einmal mehr Alina Dogodina. Schade, dass eine Maske ihr Gesicht verbirgt und ihr ein wenig die Ausstrahlung nimmt. Dennoch gelingt Alina Dogodina die anspruchsvolle Symbiose aus klassischem Tanz und modernen Bewegungsformen, die Silvana Schröder für sie kreiert hat, technisch versiert und mit starker Bühnenpräsenz.
Vor allem diese Verbindung aus modernem Tanz, Neoklassik und klassischen Elementen aus der Originalchoreografie machen diesen Ballettabend spannend. Bis ins kleinste Detail sind die Szenen durchdacht. Tanzt Giselle im ersten Akt noch auf Spitzenschuhen, tritt sie im zweiten mit Mullbinden an den Füßen auf. Das wirkt überaus verletzlich, insbesondere im Reigen mit den Wilis, die klassisch elegant in weißen romantischen Tutus, geschminkt wie Mörderpuppen aus einem Horrorfilm, Giselles Rachefeldzug begleiten. Große Gefühle, an Romantik aber denkt da wohl keiner mehr.
Romantisches Flair im Überfluss dagegen erlebt das Premierenpublikum mit den Musikern des Philharmonischen Orchesters Erfurt, die Adolphe Adams zauberhaftes Werk unter der sensiblen Leitung des jungen japanischen Pianisten und Dirigenten Takahiro Nagasaki von Theater&Philharmonie Thüringen zum Strahlen bringen.
Zwischen naivem Mädchen und Racheengel
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