„Die Vergangenheit ist immer präsent“
Der Denker Hans Ulrich Gumbrecht aus Kalifornien plädiert für einen ausgewogenen Umgang
Hans Ulrich Gumbrecht aus Kalifornien, Intellektueller von Weltrang und deutscher Herkunft, inzwischen US-Amerikaner mit Pass und Seele, hat ohnehin gerade mit Weimar zu tun. Als Senior Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) vollendet er ein Buch über Diderots Erkenntnistheorie.
Der 70-Jährige musste aber insistieren, das tatsächlich in Weimar zu tun. Denn wenn das Unglaubliche zutrifft, von dem Gumbrecht in Ettersburg berichtete, dann fragten ihn vorab Kollegen an der Bauhaus-Universität, zu der das IKKM gehört, wo in Berlin er wohnen möchte; in Weimar könne man doch nicht wohnen.
Gumbrecht konnte. Und er wollte: „weil, wenn ich in Weimar bin, ich mir beständig diesen Moment vorstelle, wo diese Stadt von damals 8000 Einwohnern dreißig Jahre lang das intellektuelle Zentrum der Welt war.“Er stellt sich dann vor, wie Schiller in seinem Haus die Idee von Geschichte kam, oder wie es war, wenn Schiller rüber zu Goethe lief.
„Das ist für mich ein Verhältnis zur Vergangenheit, aus dem ich überhaupt nichts lerne, aber das ich ekstatisch genießen kann.“Gumbrecht nennt es ein ästhetisches Verhältnis zur Geschichte, das „eine starke Berechtigung“habe. „Vielleicht muss unser Verhältnis zur Vergangenheit gar nicht ausschließlich, und nicht dominant, dieses schulmeisterliche Lernen aus der Geschichte sein.“
Gumbrecht, fast drei Jahrzehnte lang Literaturprofessor an der Stanford University, ist ein extrem produktiver Denker, der nicht nur verstehen, sondern auch verstanden werden will („Kriegen Sie keinen Schreck, ,philosophisch‘, das ist eigentlich immer einfach!“). Er kokettiert nicht mit seinem Wissen, außer vielleicht mit jenem, dass er doch eigentlich nichts weiß. Er ist als Lehrer zugleich immer ein Schüler – und schon insofern eine ganz besondere Erscheinung auf dem Pfingstfestival Schloss Ettersburg.
Dessen heiße Zeit stehe zwar noch bevor, so Direktor Peter D. Krause, „aber wir haben schon ziemlich hochkarätige Veranstaltungen hinter uns“. Er hat das Programm entzerrt und so Pfingsten ausgedehnt: Die Ausgießung nicht des Heiligen Geistes, aber doch großer Geister, denen das freie Denken heilig ist, erstreckt sich nun über viele Wochen.
Gumbrecht war am vergangenen Sonntag zur Frage geladen, was wir mit unserer Vergangenheit anfangen. Das sollte am Jahr 1919 exemplifiziert werden, jener Zeitenwende, mit der „das Zeitalter der Extreme“begann, so Krause. Es ging dann aber doch sehr weit darüber hinaus.
Er würde „die praktische Relevanz geschichtlichen Wissens für heute nicht überbewerten“, so Gumbrecht. Aber es sei wesentlich „zur Vergegenwärtigung und Illustration dessen, was möglich ist, negativ und positiv“. So sollte man die Gesichter der Opfer von Hiroshima oder Buchenwald ab und zu sehen, aber auch „Momente historischen Glücks“.
Das gehört dann wohl zu jener „Präsenz-Dimension“, die man im täglichen Erleben gar nicht abschalten kann: sich körperlich, sich sinnlich ins Verhältnis zur Welt zu setzen. Diese Emotionalität sei aber seit der frühen Neuzeit in den westlichen Kulturen „systematisch eingeklammert worden“, durch Rationalität. Das ist gleichsam Hans Ulrich Gumbrechts Kritik der reinen Vernunft.
Der Radiomacher und Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen verblüfft an diesem Nachmittag mit einer klugen, obwohl zunächst irritierenden, weil weitläufig wirkenden Gesprächsführung. Mit einem Überblick über Werke, an die Wand projiziert, nähert er sich langsam „dem philosophischen Kern des historischen Denkens“von Gumbrecht.
Schließlich konfrontiert er ihn mit Bildern von 1919: Weimarer Nationalversammlung, Straßenkämpfe in Berlin, Versailler Vertrag. Gumbrecht setzt sich dazu sinnlich ins Verhältnis, er zeigt Präsenz. Er sieht „die Andersheit von 1919“. Die helfe uns nicht weiter, fasziniere aber.
Die Vergangenheit unterdessen ist „auch aufgrund der elektronischen Speichermöglichkeiten keine mehr, die wir hinter uns lassen“, so Gumbrecht. „Die gesamte Vergangenheit ist immer präsent“– und insofern aggressiv, als sie die Gegenwart „mit zu viel Material überschwemmt“. Zugleich sei in unserem Alltag „unsere Zukunft nicht mehr ein offener Horizont von Möglichkeiten, den wir gestalten können, sondern besetzt von Gefahren, die langsam und unvermeidlich auf uns zukommen“.
Das führt zu „einer sich immer mehr verbreiternden Gegenwart (. . . ), über die hinauszukommen wir nicht mehr ernsthaft hoffen“, wie Gumbrecht schon 2010 schrieb. Nach seinem Auftritt traf er, vor der Kulisse des Ettersburger Pücklerschlags, auf den australischen Historiker Christopher Clark: zwei Weltgeister in der Provinz, die an diesem Ort so gar nicht provinziell wirkt.
Clark, der Professor aus Cambridge, zog nicht zuletzt als prominent gewordenes Fernsehgesicht, am Abend erst recht viel Publikum ins Schloss. Mit Peter Krause sprach er über sein Buch „Von Zeit und Macht“, in dem er am Beispiel Brandenburg-Preußens zeigt, wie Geschichte und Geschichtsbilder politische Herrschaft grundieren und diese wiederum Geschichte macht.
Da fügten sich also zwei Veranstaltungen zum Pfingstfestival in nuce.
„Eine sich immer mehr verbreiternde Gegenwart“