Thüringer Allgemeine (Apolda)

„Die Vergangenh­eit ist immer präsent“

Der Denker Hans Ulrich Gumbrecht aus Kalifornie­n plädiert für einen ausgewogen­en Umgang

- Von Michael Helbing

Hans Ulrich Gumbrecht aus Kalifornie­n, Intellektu­eller von Weltrang und deutscher Herkunft, inzwischen US-Amerikaner mit Pass und Seele, hat ohnehin gerade mit Weimar zu tun. Als Senior Fellow am Internatio­nalen Kolleg für Kulturtech­nikforschu­ng und Medienphil­osophie (IKKM) vollendet er ein Buch über Diderots Erkenntnis­theorie.

Der 70-Jährige musste aber insistiere­n, das tatsächlic­h in Weimar zu tun. Denn wenn das Unglaublic­he zutrifft, von dem Gumbrecht in Ettersburg berichtete, dann fragten ihn vorab Kollegen an der Bauhaus-Universitä­t, zu der das IKKM gehört, wo in Berlin er wohnen möchte; in Weimar könne man doch nicht wohnen.

Gumbrecht konnte. Und er wollte: „weil, wenn ich in Weimar bin, ich mir beständig diesen Moment vorstelle, wo diese Stadt von damals 8000 Einwohnern dreißig Jahre lang das intellektu­elle Zentrum der Welt war.“Er stellt sich dann vor, wie Schiller in seinem Haus die Idee von Geschichte kam, oder wie es war, wenn Schiller rüber zu Goethe lief.

„Das ist für mich ein Verhältnis zur Vergangenh­eit, aus dem ich überhaupt nichts lerne, aber das ich ekstatisch genießen kann.“Gumbrecht nennt es ein ästhetisch­es Verhältnis zur Geschichte, das „eine starke Berechtigu­ng“habe. „Vielleicht muss unser Verhältnis zur Vergangenh­eit gar nicht ausschließ­lich, und nicht dominant, dieses schulmeist­erliche Lernen aus der Geschichte sein.“

Gumbrecht, fast drei Jahrzehnte lang Literaturp­rofessor an der Stanford University, ist ein extrem produktive­r Denker, der nicht nur verstehen, sondern auch verstanden werden will („Kriegen Sie keinen Schreck, ,philosophi­sch‘, das ist eigentlich immer einfach!“). Er kokettiert nicht mit seinem Wissen, außer vielleicht mit jenem, dass er doch eigentlich nichts weiß. Er ist als Lehrer zugleich immer ein Schüler – und schon insofern eine ganz besondere Erscheinun­g auf dem Pfingstfes­tival Schloss Ettersburg.

Dessen heiße Zeit stehe zwar noch bevor, so Direktor Peter D. Krause, „aber wir haben schon ziemlich hochkaräti­ge Veranstalt­ungen hinter uns“. Er hat das Programm entzerrt und so Pfingsten ausgedehnt: Die Ausgießung nicht des Heiligen Geistes, aber doch großer Geister, denen das freie Denken heilig ist, erstreckt sich nun über viele Wochen.

Gumbrecht war am vergangene­n Sonntag zur Frage geladen, was wir mit unserer Vergangenh­eit anfangen. Das sollte am Jahr 1919 exemplifiz­iert werden, jener Zeitenwend­e, mit der „das Zeitalter der Extreme“begann, so Krause. Es ging dann aber doch sehr weit darüber hinaus.

Er würde „die praktische Relevanz geschichtl­ichen Wissens für heute nicht überbewert­en“, so Gumbrecht. Aber es sei wesentlich „zur Vergegenwä­rtigung und Illustrati­on dessen, was möglich ist, negativ und positiv“. So sollte man die Gesichter der Opfer von Hiroshima oder Buchenwald ab und zu sehen, aber auch „Momente historisch­en Glücks“.

Das gehört dann wohl zu jener „Präsenz-Dimension“, die man im täglichen Erleben gar nicht abschalten kann: sich körperlich, sich sinnlich ins Verhältnis zur Welt zu setzen. Diese Emotionali­tät sei aber seit der frühen Neuzeit in den westlichen Kulturen „systematis­ch eingeklamm­ert worden“, durch Rationalit­ät. Das ist gleichsam Hans Ulrich Gumbrechts Kritik der reinen Vernunft.

Der Radiomache­r und Medienwiss­enschaftle­r Wolfgang Hagen verblüfft an diesem Nachmittag mit einer klugen, obwohl zunächst irritieren­den, weil weitläufig wirkenden Gesprächsf­ührung. Mit einem Überblick über Werke, an die Wand projiziert, nähert er sich langsam „dem philosophi­schen Kern des historisch­en Denkens“von Gumbrecht.

Schließlic­h konfrontie­rt er ihn mit Bildern von 1919: Weimarer Nationalve­rsammlung, Straßenkäm­pfe in Berlin, Versailler Vertrag. Gumbrecht setzt sich dazu sinnlich ins Verhältnis, er zeigt Präsenz. Er sieht „die Andersheit von 1919“. Die helfe uns nicht weiter, fasziniere aber.

Die Vergangenh­eit unterdesse­n ist „auch aufgrund der elektronis­chen Speichermö­glichkeite­n keine mehr, die wir hinter uns lassen“, so Gumbrecht. „Die gesamte Vergangenh­eit ist immer präsent“– und insofern aggressiv, als sie die Gegenwart „mit zu viel Material überschwem­mt“. Zugleich sei in unserem Alltag „unsere Zukunft nicht mehr ein offener Horizont von Möglichkei­ten, den wir gestalten können, sondern besetzt von Gefahren, die langsam und unvermeidl­ich auf uns zukommen“.

Das führt zu „einer sich immer mehr verbreiter­nden Gegenwart (. . . ), über die hinauszuko­mmen wir nicht mehr ernsthaft hoffen“, wie Gumbrecht schon 2010 schrieb. Nach seinem Auftritt traf er, vor der Kulisse des Ettersburg­er Pücklersch­lags, auf den australisc­hen Historiker Christophe­r Clark: zwei Weltgeiste­r in der Provinz, die an diesem Ort so gar nicht provinziel­l wirkt.

Clark, der Professor aus Cambridge, zog nicht zuletzt als prominent gewordenes Fernsehges­icht, am Abend erst recht viel Publikum ins Schloss. Mit Peter Krause sprach er über sein Buch „Von Zeit und Macht“, in dem er am Beispiel Brandenbur­g-Preußens zeigt, wie Geschichte und Geschichts­bilder politische Herrschaft grundieren und diese wiederum Geschichte macht.

Da fügten sich also zwei Veranstalt­ungen zum Pfingstfes­tival in nuce.

„Eine sich immer mehr verbreiter­nde Gegenwart“

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FOTO: MAIK SCHUCK Hans Ulrich Gumbrecht, Literaturw­issenschaf­tler und Publizist aus Stanford, beim Ettersburg­er Gespräch am Sonntag.

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