Stechuhr für alle?
Nach einem EuGH-Urteil müssen EU-Staaten Arbeitgeber verpflichten, Arbeitszeiten systematisch zu dokumentieren
Dieses Urteil könnte den Arbeitsalltag in Deutschland für Millionen Menschen spürbar verändern: Arbeitgeber müssen in naher Zukunft die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch und lückenlos erfassen, nicht nur die Überstunden. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Dienstag entschieden. In Deutschland haben viele Branchen Nachholbedarf. Die Gewerkschaften jubeln, die Arbeitgeber sind entsetzt und warnen vor einer Rückkehr zur Stechuhr für alle Arbeitnehmer.
Was genau steht in dem Urteil?
Alle EU-Staaten müssen per Gesetz die Arbeitgeber zu Systemen der Arbeitszeiterfassung verpflichten – diese Systeme müssen „objektiv, verlässlich und zugänglich sein“und die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit messen. Das bedeutet, dass zum Beispiel auch Außendienst-Mitarbeiter oder Beschäftigte im Home-Office unter die Auflagen fallen. Die EU-Staaten haben aber Spielraum: Ihnen überlässt der EuGH, wie sie die Verpflichtung genau regeln, ob und welche Ausnahmen es etwa für einzelne Tätigkeiten oder für bestimmte Unternehmen gibt.
Wie ist es bisher geregelt?
Das deutsche Arbeitszeitgesetz legt fest, dass Überstunden nach der Regelarbeitszeit von acht Stunden registriert und dokumentiert werden müssen. Das normale Kommen und Gehen im Betrieb muss dagegen nicht zwingend erfasst werden. Ausnahmen sind Branchen wie das Bau-, Gaststätten- oder Transportgewerbe oder die Gebäudereinigung, für die das Mindestlohngesetz bereits umfassende Dokumentationspflichten für die tägliche Arbeitszeit bis zu bestimmten Gehaltsgrenzen festlegt. Auch für Minijobber außerhalb von Privathaushalten ist das vorgeschrieben. Für alle Beschäftigten in Deutschland gilt, dass sie im Durchschnitt höchstens 48 Stunden in der Woche arbeiten dürfen. Innerhalb eines 24-Stunden-Zeitraums müssen mindestens elf zusammenhängende Stunden als Ruhezeit gewährt werden.
Geht es nur mit Stechuhr?
Nein. Die Arbeitszeit lässt sich heute einfach mit dem Smartphone, der App oder dem Computer am Arbeitsplatz dokumentieren. Auch die Papierform ist möglich. Dennoch ist die Auflage ein Einschnitt: Die Vertrauensarbeitszeit, in der für die Beschäftigten Zielvorgaben und nicht zeitliche Präsenz im Vordergrund stehen, sei mit dem Urteil „praktisch tot“, warnt der Arbeitgeberverband Gesamtmetall.
Müssen wir jetzt weniger oder mehr arbeiten?
Das hängt vom Einzelfall ab. Allerdings: Wo Überstunden nur ungenau erfasst werden, wird es bei der aktuellen Beschäftigungslage wohl eher darum gehen, diese Mehrarbeit zu bezahlen. Laut einer Erhebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sparen deutsche Arbeitgeber durch rund eine Milliarde unbezahlte Überstunden etwa 18 Milliarden Euro jährlich.
Wie begründen die Richter ihr Urteil?
Nur wenn die Arbeitszeiten erfasst werden, lässt sich der Anspruch der Arbeitnehmer auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten und eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit einlösen, so die Luxemburger Richter. Es handele sich um ein Grundrecht, das in der EU-Charta verbürgt und in der EU-Arbeitszeitrichtlinie präzisiert sei. Die Arbeitnehmer seien aber die schwächere Partei des Arbeitsvertrags: Ohne ein System zur Arbeitszeitmessung ließen sich geleistete Arbeitsstunden und Überstunden nicht objektiv und verlässlich ermitteln. Dann werde es für die Arbeitnehmer „äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich, ihre Rechte durchzusetzen“.
Kann ich von meinen Chef jetzt sofort verlangen, meine Arbeitszeit zu erfassen?
Nein. Nach dem Urteil muss jeder EU-Staat für sich ein Gesetz erlassen. In Deutschland wird das Bundesarbeitsministerium das Urteil jetzt erst gründlich prüfen und dann voraussichtlich einen Entwurf vorlegen, den der Bundestag beschließen muss. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) betonte, er wolle „zu einem echten Bürokratie-Abbau“kommen – mit entsprechenden Vorschlägen wolle er die Wirtschaft um 1,3 Milliarden Euro entlasten. Die Beratungen werden dauern. Die Erfassungspflicht wird frühestens im Laufe des Jahres 2020 greifen, eher später. Oder gar nicht? Arbeitsrechtsexperten brachten kurz nach dem Urteil ins Gespräch, die zugrunde liegende EU-Arbeitszeitrichtlinie zu überprüfen, um die Vertrauensarbeitszeit zu retten. Der Branchenverband Bitkom forderte als Konsequenz aus dem Urteil, das Arbeitsrecht lieber gleich zu modernisieren und ins digitale Zeitalter zu überführen.
Warum waren die Richter gefragt?
In dem Fall hatte eine Gewerkschaft in Spanien gegen den spanischen Ableger der Deutschen Bank geklagt. Ähnlich wie in Deutschland galt in Spanien nur eine Aufzeichnungspflicht für Überstunden. Für Spanien kommt das Urteil indes zu spät. Die Regierung hat eine Gesetzesverordnung zur umfassenden Arbeitszeiterfassung beschlossen, die am Sonntag in Kraft trat.
Wie sind die Reaktionen?
Der Deutsche Gewerkschaftsbund erklärte, das Urteil schiebe „Flatrate-Arbeit“einen Riegel vor. Die unbezahlten Überstunden seien in Deutschland inakzeptabel hoch, was für die Arbeitnehmer nicht nur „Lohnund Zeitdiebstahl“bedeute, sondern auch ernste gesundheitliche Folgen haben könne. Die Arbeitgeber reagierten dagegen entsetzt. In einer knappen Erklärung monierte der Arbeitgeberverband BDA, die Gerichtsentscheidung „wirkt wie aus der Zeit gefallen“. Die Arbeitgeber seien gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr. „Auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 kann man nicht mit einer Arbeitszeiterfassung 1.0 reagieren.“Die Entscheidung dürfe keine Nachteile für solche Arbeitnehmer mit sich bringen, die heute flexibel arbeiten.