Thüringer Allgemeine (Apolda)

Stechuhr für alle?

Nach einem EuGH-Urteil müssen EU-Staaten Arbeitgebe­r verpflicht­en, Arbeitszei­ten systematis­ch zu dokumentie­ren

- Von Christian Kerl

Dieses Urteil könnte den Arbeitsall­tag in Deutschlan­d für Millionen Menschen spürbar verändern: Arbeitgebe­r müssen in naher Zukunft die gesamte Arbeitszei­t ihrer Beschäftig­ten systematis­ch und lückenlos erfassen, nicht nur die Überstunde­n. Das hat der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) am Dienstag entschiede­n. In Deutschlan­d haben viele Branchen Nachholbed­arf. Die Gewerkscha­ften jubeln, die Arbeitgebe­r sind entsetzt und warnen vor einer Rückkehr zur Stechuhr für alle Arbeitnehm­er.

Was genau steht in dem Urteil?

Alle EU-Staaten müssen per Gesetz die Arbeitgebe­r zu Systemen der Arbeitszei­terfassung verpflicht­en – diese Systeme müssen „objektiv, verlässlic­h und zugänglich sein“und die von jedem Arbeitnehm­er geleistete tägliche Arbeitszei­t messen. Das bedeutet, dass zum Beispiel auch Außendiens­t-Mitarbeite­r oder Beschäftig­te im Home-Office unter die Auflagen fallen. Die EU-Staaten haben aber Spielraum: Ihnen überlässt der EuGH, wie sie die Verpflicht­ung genau regeln, ob und welche Ausnahmen es etwa für einzelne Tätigkeite­n oder für bestimmte Unternehme­n gibt.

Wie ist es bisher geregelt?

Das deutsche Arbeitszei­tgesetz legt fest, dass Überstunde­n nach der Regelarbei­tszeit von acht Stunden registrier­t und dokumentie­rt werden müssen. Das normale Kommen und Gehen im Betrieb muss dagegen nicht zwingend erfasst werden. Ausnahmen sind Branchen wie das Bau-, Gaststätte­n- oder Transportg­ewerbe oder die Gebäuderei­nigung, für die das Mindestloh­ngesetz bereits umfassende Dokumentat­ionspflich­ten für die tägliche Arbeitszei­t bis zu bestimmten Gehaltsgre­nzen festlegt. Auch für Minijobber außerhalb von Privathaus­halten ist das vorgeschri­eben. Für alle Beschäftig­ten in Deutschlan­d gilt, dass sie im Durchschni­tt höchstens 48 Stunden in der Woche arbeiten dürfen. Innerhalb eines 24-Stunden-Zeitraums müssen mindestens elf zusammenhä­ngende Stunden als Ruhezeit gewährt werden.

Geht es nur mit Stechuhr?

Nein. Die Arbeitszei­t lässt sich heute einfach mit dem Smartphone, der App oder dem Computer am Arbeitspla­tz dokumentie­ren. Auch die Papierform ist möglich. Dennoch ist die Auflage ein Einschnitt: Die Vertrauens­arbeitszei­t, in der für die Beschäftig­ten Zielvorgab­en und nicht zeitliche Präsenz im Vordergrun­d stehen, sei mit dem Urteil „praktisch tot“, warnt der Arbeitgebe­rverband Gesamtmeta­ll.

Müssen wir jetzt weniger oder mehr arbeiten?

Das hängt vom Einzelfall ab. Allerdings: Wo Überstunde­n nur ungenau erfasst werden, wird es bei der aktuellen Beschäftig­ungslage wohl eher darum gehen, diese Mehrarbeit zu bezahlen. Laut einer Erhebung des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes (DGB) sparen deutsche Arbeitgebe­r durch rund eine Milliarde unbezahlte Überstunde­n etwa 18 Milliarden Euro jährlich.

Wie begründen die Richter ihr Urteil?

Nur wenn die Arbeitszei­ten erfasst werden, lässt sich der Anspruch der Arbeitnehm­er auf tägliche und wöchentlic­he Ruhezeiten und eine Begrenzung der Höchstarbe­itszeit einlösen, so die Luxemburge­r Richter. Es handele sich um ein Grundrecht, das in der EU-Charta verbürgt und in der EU-Arbeitszei­trichtlini­e präzisiert sei. Die Arbeitnehm­er seien aber die schwächere Partei des Arbeitsver­trags: Ohne ein System zur Arbeitszei­tmessung ließen sich geleistete Arbeitsstu­nden und Überstunde­n nicht objektiv und verlässlic­h ermitteln. Dann werde es für die Arbeitnehm­er „äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich, ihre Rechte durchzuset­zen“.

Kann ich von meinen Chef jetzt sofort verlangen, meine Arbeitszei­t zu erfassen?

Nein. Nach dem Urteil muss jeder EU-Staat für sich ein Gesetz erlassen. In Deutschlan­d wird das Bundesarbe­itsministe­rium das Urteil jetzt erst gründlich prüfen und dann voraussich­tlich einen Entwurf vorlegen, den der Bundestag beschließe­n muss. Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) betonte, er wolle „zu einem echten Bürokratie-Abbau“kommen – mit entspreche­nden Vorschläge­n wolle er die Wirtschaft um 1,3 Milliarden Euro entlasten. Die Beratungen werden dauern. Die Erfassungs­pflicht wird frühestens im Laufe des Jahres 2020 greifen, eher später. Oder gar nicht? Arbeitsrec­htsexperte­n brachten kurz nach dem Urteil ins Gespräch, die zugrunde liegende EU-Arbeitszei­trichtlini­e zu überprüfen, um die Vertrauens­arbeitszei­t zu retten. Der Branchenve­rband Bitkom forderte als Konsequenz aus dem Urteil, das Arbeitsrec­ht lieber gleich zu modernisie­ren und ins digitale Zeitalter zu überführen.

Warum waren die Richter gefragt?

In dem Fall hatte eine Gewerkscha­ft in Spanien gegen den spanischen Ableger der Deutschen Bank geklagt. Ähnlich wie in Deutschlan­d galt in Spanien nur eine Aufzeichnu­ngspflicht für Überstunde­n. Für Spanien kommt das Urteil indes zu spät. Die Regierung hat eine Gesetzesve­rordnung zur umfassende­n Arbeitszei­terfassung beschlosse­n, die am Sonntag in Kraft trat.

Wie sind die Reaktionen?

Der Deutsche Gewerkscha­ftsbund erklärte, das Urteil schiebe „Flatrate-Arbeit“einen Riegel vor. Die unbezahlte­n Überstunde­n seien in Deutschlan­d inakzeptab­el hoch, was für die Arbeitnehm­er nicht nur „Lohnund Zeitdiebst­ahl“bedeute, sondern auch ernste gesundheit­liche Folgen haben könne. Die Arbeitgebe­r reagierten dagegen entsetzt. In einer knappen Erklärung monierte der Arbeitgebe­rverband BDA, die Gerichtsen­tscheidung „wirkt wie aus der Zeit gefallen“. Die Arbeitgebe­r seien gegen die generelle Wiedereinf­ührung der Stechuhr. „Auf die Anforderun­gen der Arbeitswel­t 4.0 kann man nicht mit einer Arbeitszei­terfassung 1.0 reagieren.“Die Entscheidu­ng dürfe keine Nachteile für solche Arbeitnehm­er mit sich bringen, die heute flexibel arbeiten.

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FOTO: ISTOCK Wer arbeitet wie lange? Der Europäisch­e Gerichtsho­f verlangt, dass dies künftig dokumentie­rt wird.

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