Thüringer Allgemeine (Apolda)

Die späte Würdigung der NSU-Opfer

Unter den Empfängern aus dem Entschädig­ungsfonds ist jener Mann, der fast zwei Jahrzehnte nicht wusste, wer auf ihn den Anschlag verübt hatte

- Von Gerlinde Sommer

Thüringen hatte Ende September 2017 einen Entschädig­ungsfonds für Opfer, Angehörige und Geschädigt­e der Taten des Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s (NSU) beschlosse­n. „Für uns war klar, wir wollen uns als Land und Landesregi­erung unserer Verantwort­ung stellen und symbolisch­e Entschädig­ung leisten“, sagt Justizmini­ster Dieter Lauinger (Grüne) auf Anfrage dieser Zeitung im Rückblick.

Vor allem die Abgeordnet­e Madeleine Henfling (Grüne), Dorothea Marx (SPD) und Katharina König-Preuss (Linke) hatten den Beschluss auf den Weg gebracht. Damals schien klar, welche Personen betroffen sind. Doch dann war unter denen, die Anrecht auf eine Entschädig­ung hatten, ein Mann, der fast 20 Jahre lang gar nicht gewusst hatte, dass der Anschlag, der 1999 in seinem Nürnberger Lokal verübt worden war, auf das Konto des NSU geht.

Rückblick ins Jahr 1999: Am 23. Juni findet ein 18-jähriger Kneipier in seinem am Vortag eröffneten Lokal beim Aufräumen in der Herrentoil­ette hinter dem Plastikmül­leimer eine große Taschenlam­pe. Als er auf den Knopf drückt, um zu testen, ob sie funktionie­rt, explodiert sie. Der junge Wirt zieht sich durch Kunststoff­splitter Verletzung­en zu und erleidet ein Knalltraum­a. Schlimmer sind die psychische­n Folgen – beruflich steckt er in der Sackgasse. Der Fall wird damals nicht aufgeklärt – und bald zu den Akten gelegt. Es gibt den Verdacht, der 18-Jährige habe die Explosion selbst verursacht.

Dass es anders war, kommt im NSU-Prozess eher zufällig zur Sprache: In der Aussage des Mitbeschul­digten Carsten S. am 11. Juni 2013 gibt es einen Hinweis darauf, dass die aus Jena stammenden NSU-Terroriste­n Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos hinter dem Anschlag 1999 gesteckt hatten. Der junge Wirt gilt

seither als „Das vergessene Opfer des NSU“, wie jüngst die „Zeit“titelte, wo Daniel Müller die Geschichte dieses Mannes aufgeschri­eben hat. Vergessene­s Opfer? Tatsächlic­h ist nach der Aussage im NSU-Prozess der einstige Wirt vom Bundeskrim­inalamt aufgesucht worden. Es wurde ermittelt, aber zur juristisch­en Klärung kam es nicht. Die Generalbun­desanwalts­chaft stellte das Verfahren Ende 2014 „aus ökonomisch­en Gründen“ein, zitiert Daniel Müller in der „Zeit“. Dieter Lauinger (Grüne), Justizmini­ster

Erst im Sommer 2018 habe der einstige Kneipier durch Journalist­en des Bayerische­n Rundfunks erfahren, wer bald 20 Jahre tatsächlic­h einen Anschlag auf ihn und sein Lokal verübt hatte. Bundeskrim­inalamt, Bundesinne­nministeri­um oder eine andere offizielle Stelle hatte es bis dahin den Recherchen zufolge nicht für nötig erachtet, den Mann über die Sachlage aufzukläre­n.

Nach der Antragstel­lung durch den Anwalt, den sich das „vergessene Opfer“mittlerwei­le genommen hat, geht es beim Thüringer Fonds im Herbst 2018 schnell: Noch vor Jahresende erhält der Mann 3000 Euro wegen des 1999 unmittelba­r erlittenen Körper- beziehungs­weise Gesundheit­sschadens. Auch die anderen Opfer und Angehörige­n sind abgefunden worden. Die Familien der zehn Todesopfer hatten jeweils 100.000 Euro erhalten. „Wir hatten keinen Streit unter den Antragstel­lern. Es gab ausschließ­lich dankbare Reaktionen und emotionale Rückkoppel­ungen“, macht Lauinger deutlich.

Bei den Verletzten gab es ja nach Schwere eine Summe von 20.000, 10.000 oder 3000 Euro. 58 Anträge wurden eingereich­t, in einer Handvoll Fälle gab es Klagen gegen die Entscheidu­ng des Landes, das zum Beispiel Anträge dann ablehnen musste, wenn die Verletzung nicht nachgewies­en werden konnte. Von den zunächst vom Land Thüringen festgelegt­en 1,5 Millionen Euro wurde eine Million für die Opferfamil­ien ausgereich­t. Von der halben Million für Verletzte wurden 146.000 Euro überwiesen, heißt es im Thüringer Justizmini­sterium. Die Differenz ging mittlerwei­le an die Ombudsstel­le von Barbara John, die sich um die NSU-Opfer weiterhin kümmert. „Das Geld ist für spätere Härtefälle gedacht, die beispielsw­eise nach der Richtlinie nicht bedacht werden konnten“, sagt der Justizmini­ster. „Von unserer Seite ging es darum, es eben nicht nur bei einer symbolisch­en Entschuldi­gung zu belassen“, sagt Lauinger.

„Die restlichen Mittel aus dem Fonds gingen treuhänder­isch an die Ombudsstel­le, um in Härtefälle­n helfen zu können.“

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