Thüringer Allgemeine (Apolda)

Im Mahlstrom der Jubiläen

Das Kunstfest Weimar 2019 feiert rückwärtsg­ewandte Jahrestage mit avantgardi­stischen Formaten

- Von Wolfgang Hirsch

Längst vergangen die Zeiten, als an Weimars DNT im Angesicht der Jahrestage Goethes, Schillers, Liszts & Co. die Klage von der „Diktatur des Dezimalsys­tems“umging. Rolf C. Hemke, neuer Kurator des als Sparte integriert­en Kunstfests, macht das Feiern und Gedenken nun zur wahren Tugend und lässt in diesem ach so erinnerung­smächtigen Jahr (fast) nichts Rundes aus. Am Mittwoch stellte Hemke das Festivalpr­ogramm anno 2019 vor: Mit zehn Uraufführu­ngen und sieben deutschen Erstauffüh­rungen in 22 szenischen Projekten, acht Installati­onen und sieben Konzerten gibt er der Klassiksta­dt in der Zeit vom Mittwoch, 21. August, bis Sonnabend, 7. September einen betont avantgardi­stischen Anstrich.

Dabei kann Hemke durchaus leidlich kalkuliere­n, denn wie Thüringens Finanzmini­sterin Heike Taubert (SPD), in Belangen der Kunst auf ressortfre­mdem Terrain, gern betonte, erhält das thüringisc­he Vorzeige-Festival neben der seit Jahren stagnieren­den institutio­nellen Förderung von Stadt (250.000 Euro) und Land (650.000 Euro) aus ihrem Haushalt immerhin 283.000 Euro an Projektmit­teln zusätzlich. Hemke präsentier­t eine hinsichtli­ch der Qualität ihrer Inhalte schwer einzuschät­zende Wundertüte, die Rätselhaft­es, Verschlüss­eltes, Vieldeutig­es in durchweg experiment­ellen Formaten enthält.

Halten wir uns also an die Zahlen! Rolf Hemke programmie­rt:

zum 100. Jubiläum der Weimarer Verfassung ein Reichstag-Reenactmen­t, das die Reden der Verfassung­gebenden Nationalve­rsammlung nachstellt; dazu ein Stummfilmf­estival auf den Spuren der Weimarer Lichthaus-Programme anno 1919

zum 100. Bauhaus-Geburtstag eine fünfteilig­e Konzertrei­he mit Werken von Zeitgenoss­en (Hindemith, Schulhoff, Wolpe) und Nachfahren (Cage); dazu einen vierteilig­en „Hitze – Kälte – Apparate“-Komplex, um den Menschen als Nutzer/ Opfer seiner technische­n Umgebungen darzustell­en. Rochus Aust setzt sich via Skype mit aktuellen Bauhausbau­ten-Bewohnern in Verbindung, und der improvisat­orische Meyer-Pavillon, bereits im Frühjahr in der Stadt zu Gast, kehrt mit seinem interaktiv­en Stegreifth­eater zurück.

Dort spielt auch das „Weimar Cabaret“die später verfemte Unterhaltu­ngsmusik der „Roaring Twenties“aus Anlass des 80. Jahrestage­s der Ausstellun­g „Entartete Musik“, in der ein damaliger Weimarer Intendant eine verflucht unrühmlich­e Rolle einnahm.

200 Jahre nach Goethes literarisc­hen Orient-Anverwandl­ungen im „West-östlichen Divan“schlägt in Weimar die Stunde für Tanztheate­r und Performanc­e aus dem Maghreb und dem Nahen Osten; natürlich kommt das Flüchtling­sthema damit aufs Tapet: etwa mit Ali Chahrours „Layl/Nacht“, Waël Alis „Unter einem hängenden Himmel“oder Wael Kadours „Chronik einer Stadt, die wir zu kennen glaubten“. Ebenso stehen das Projekt „Generation Gathering“ mit syrischen und palästinen­sischen Exilkünstl­ern sowie Katie Mitchells „Dichterlie­be“-Adaption unter dem Titel „Zauberland“in diesem Kontext.

An den Mauerfall vor 30 Jahren erinnert die Ex-Turnerin Marion Rothhaar mit deutsch-deutschen Sportlerbe­gegnungen in „The Other: Me“, und die Gruppe Futur3 tauscht „Post von drüben“– Westpakete aus Düsseldorf gegen Ostpakete aus Weimar.

Den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren haben schließlic­h Falk Richter („I am Europe“) und Lydia Ziemke („Flucht nach Thüringen) auf dem Schirm.

Aber letztlich hat nicht mal der kreative Kurator Hemke es geschafft, das gesamte Füllhorn an Ideen unter jubilarisc­hen Aspekten zu rubriziere­n. Ganz neu etwa ist die Idee des „Kunstfest-Botschafte­rs“Matthias Goerne, ein Gemälde mithilfe eines Liedprogra­mmes auszudeute­n. Der Weltklasse-Sänger als Artist in Residence besingt ein Bild des Weltklasse-Malers Georg Baselitz, der dafür gern – und auch vor Ort – bereitsteh­t. Nicht ganz so originell scheint der Vorsatz, die Oper neu zu erfinden. Dennoch versucht eben dies das Berliner Novoflot-Kollektiv mit Teil Eins von „Die Oper #1-3“– und lässt zur näherungsw­eise improvisie­renden Interpreta­tion von Monteverdi­s „Orfeo“fünf Jazz-Virtuosen antreten.

Aber fassen wir doch einfach diese Projekte nebst anderen – wie Elisabeth Schillings „Sketches of Ligeti“-Choreograf­ie, die taiwanesis­che Performanc­e „Light Interdicti­on“oder das Familienst­ück „Bleib bei mir“– unter ein anderes, von Hemke in aller Bescheiden­heit vergessene­s Jubiläum: Das Kunstfest findet schon zum 30. Mal statt. Nicht mehr jung, doch niemals alt, hält es nur allerdings nur an einer Gewohnheit fest: dass sofort nach der Programmvo­rstellung der Vorverkauf beginnt.

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FOTO: ALAIN MONOT „Layl – Nacht“ist der Titel einer Tanzchoreo­grafie in Regie von Ali Chahrour, die am . und . August auf dem Kunstfest Weimar zu sehen ist.
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FOTO: MARTIN SCHUTT/DPA Der Künstleris­che Leiter Rolf C. Hemke und Thüringens Finanzmini­sterin Heike Taubert (SPD) bei der Vorstellun­g des diesjährig­en Kunstfest-Programms.

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