Die ersten Kreuze
Über Gesichter auf Wahlplakaten, Vertrauen in Politiker und warum das Wählen mit 16 nicht immer eine gute Idee ist: Eine Begegnung mit Erstwählern
Zumindest auf den Laternenpfählen der Städte hat der Wahlkampf schwindelerregende Höhen erreicht. Noch neunmal schlafen, dann werden die Thüringer in ihrem Superwahljahr zum ersten Mal an die Urnen gebeten. Unter den mehr als 1,75 Millionen Wahlberechtigten sind 32.000 Jugendliche zwischen 16 und 17 Jahren, die über die kommunalen Parlamente mit entscheiden. Wählen ab 16 – seit dem vergangenen Jahr ist das bei den Kommunalwahlen in Thüringen möglich.
Aber erreicht der Aufruf die Jugendlichen überhaupt? Ein Stimmungsbericht aus einer Klasse der Erfurter AndreasGordon-Schule: 14 Jugendliche auf dem Weg zum Abitur, jeder Zweite war im vergangenen Jahr noch keine 16 und ist nun also Erstwähler.
Wahl oder nicht Wahl, lautet zunächst die Grundsatzfrage. Hier herrscht Einstimmigkeit, zur Wahl gehen sie alle. „Wenn man etwas anders haben will, muss man wählen gehen.“„Wer nicht wählt, darf sich hinterher nicht beklagen.“„Es dauert fünf Minuten. Wenn man sich nicht selbst engagieren will, soll man wenigstens wählen.“Andere sehen in der Kommunalwahl schon mal eine „gute Übung, um sich für spätere Wahlen mit Parteien auseinanderzusetzen.“
Nachdem das geklärt ist, wird es schwieriger. Wo soll man seine Kreuze setzen? Sie sehe, bemerkt eine Schülerin, auf den Wahlplakaten nur Gesichter und Namen, die ihr nichts sagen. Wofür sie stehen, erkenne sie jedenfalls kaum. Sie habe, sagt eine andere, noch kein Plakat gesehen, welches Themen anspricht, die sie interessieren. Es geht sogar noch deutlicher: Für eine Schülerin sind die Plakate eher eine Entscheidungshilfe dafür, wen sie nicht wählt.
Der plakatierte Wahlkampf, so viel scheint fest zu stehen, lässt die jungen Wähler kalt. Wie also finden sie zu einer Entscheidung? Als „digital natives“über Facebook, Instagram und Co? Oder wählen sie, was die Eltern schon immer gewählt haben?
Natürlich ist das Internet für sie eine Informationsquelle, das sagen fast alle. Aber nicht als Zufallsgenerator, je nach dem welche Meinung das Netz anspült. Viele sprechen von gezielter Suche nach Inhalten, auf die sie sich vor der Wahl begeben werden. Und ja, sie reden darüber – auch im Freundeskreis und in der Schule. Im Unterricht waren die Kommunalwahlen Thema, in der kommenden Woche beteiligen sie sich an den Juniorwahlen.
Eine Schülerin erzählt von der Einladung zu einer Informationsveranstaltung, die sie im Briefkasten fand. Sie wird hingehen, auch um zu hören, ob das, was sie dort sagen, etwas mit ihren Interessen zu tun hat.
Und die wären? Welche kommunalen Themen erreichen jugendliche Wähler überhaupt? Schwierig. Es ist schon wichtig, das Kleine. Aber im Grunde finde sie wichtiger, was hinter ihrer Ortsgrenze passiert, bemerkt eine Schülerin und erntet einigen Widerspruch.
Der Zustand der Schulen gehe sie ja direkt etwas an, zum Beispiel. Eine andere ärgert sich über die Lücken im Nahverkehr: „Wenn du auf dem Dorf wohnst und willst am Wochenende in die Stadt, bist du aufgeschmissen.“Fahrpreise sind ein Thema. Schüler sollten kostenfrei fahren dürfen, egal wo ihre Schule ist. Eine Schülerin, die ein freiwilliges soziales Jahr im Erfurter Zoo gemacht hat, fragt, warum eigentlich niemand die Lebensbedingungen der Tiere dort hinterfragt. Mehr Geschäfte, die ohne Verpackungsmüll auskommen, sind ein Thema, ebenso wie die wegen der Buga 2021 gefällten Bäume, „nur damit es nach außen gut aussieht“. Die fehlenden Lehrer an den Schulen, erneuerbare Energien, der Kohleausstieg und warum das so lange dauert...
Jetzt sind sie doch schnell bei Themen, über die bei anderen Wahlen entschieden wird. An denen dürfen sie aber noch nicht teilnehmen. Würden sie gern? Immerhin, in Österreich und Malta dürfen Jugendliche schon ab 16 Jahren zur Europawahl. Was sagen sie, herunter mit dem Wahlalter?
„Besser, es bleibt bei 18 Jahren.“Die Mehrheit stimmt zu. „Es gibt viele in unserem Alter, die befassen sich überhaupt nicht mit Politik und würden nur aus Jux oder Protest wählen.“„Bei einer Kommunalwahl wäre vieles verschmerzbar. Wenn bei einer Europawahl richtiger Mist herauskommt, ist es kritisch.“„Man braucht schon Lebenserfahrung, um zu wissen was man wählt.“„Ich würde es sogar auf 21 Jahre hochsetzen.“– Sätze, die zusammenfassen, warum sie das für keine gute Idee halten. Eine Schülerin bemerkt, sie werde in einem Dreivierteljahr 18 und würde sich nicht vorbereitet für eine Europawahl fühlen. Überraschend, aber klar, diese Selbsteinschätzung. Trotzdem. „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“, wurde einst über die EU gewitzelt. Gilt das auch für die Wahrnehmung durch die Jungen? Welche Europa-Themen wären ihnen wichtig?
Lange nachdenken müssen sie nicht. Umwelt und Klimawandel stehen ganz vorn. Das sind unsere Themen, meinen sie. Es klingt überzeugt.
Eine Schülerin bekommt Zustimmung, als sie von den Flüchtlingen spricht und dass die EU sich bei ihrer Verteilung nicht einigen konnte. „Das kann nicht sein, dass sie das nicht auf die Reihe bekommen.“
Kürzlich habe eine Schülerin einen Wahlspot gesehen, da ging es nur um Rente, bemerkt sie. Sie vermisst den Blick auf die Jungen. „Viele Ältere behaupten, wir Jungen würden uns nicht für Politik interessieren, aber vielleicht liegt es genau daran.“
Vertrauen sie Politikern überhaupt? Die Frage sei doch, wie sie ihre Versprechen erfüllen können. Ausstieg aus den Waffenexporten zum Beispiel. „Das klingt gut, aber wie wollen sie das durchsetzen?“Wenn Parteien nicht erklären können, wie sie ein Versprechen erfüllen wollen, wird es unglaubwürdig, finden sie. Es werde nie ein Partei geben, mit der man zu 100 Prozent übereinstimmt, bemerkt ihre Sitznachbarin. Ein Grund, nicht zur Wahl zu gehen, wären solche Zweifel für sie aber nicht, sagen sie alle.
Für Erstwähler ist das schon mal kein schlechter Anfang.