Das kurze Leben eines Bankräubers
1998 erschoss die Polizei einen 22-jährigen Arnstädter. Er hatte seine Überfälle teils als Freigänger begangen
Im Herbst 1997 gehen diese Zeilen als offener Brief beim Thüringer Justizminister ein: „Hinter den Mauern vollzieht sich nicht nur die Justiz, sondern ein gnadenloses System der Unterdrückung, in dem das Faustrecht des Stärkeren gilt. Knast ist ein System, in dem man ist, was man darstellt bzw. darstellen kann. Es gibt die Kings, die Freunde von den Kings, geduldete Gäste und die Ritzen. Die Letzteren werden als das Letzte behandelt und für Dienste in jeglicher Hinsicht missbraucht. Und falls sie sich doch mal wehren, gibt es blaue Flecken und Kiefernbrüche – ein ständiger Machtkampf, der im Jugendstrafvollzug stärker ist als im Erwachsenenvollzug. Die Kings dürfen ihr Gesicht nicht verlieren, müssen ihr Image bewahren und ihre Macht beweisen, die Ritze kriegt Einläufe mit der Dusche.“
Absender sind der Intendant des Nordhäuser Theaters Christoph Nix und die Regisseurin Uta Plate. Sie berichten von einem Projekt, dass das Theater 1997/98 in der Jugendstrafanstalt Ichtershausen (Ilm-Kreis) umsetzt. Die Insassen spielen sich selbst. Sie knacken Autos, sie rauben eine Bank aus, sie nehmen Drogen, sie werden verhaftet, sie landen hinter Gittern, sie träumen von der Freiheit…
„Das Theater ist kein Allheilmittel gegen die Gewalt“, heißt es in dem Brief. „Aber es schafft einen Raum für soziale und ästhetische Prozesse, in dem man vielleicht einmal und nur ein einziges Mal im Leben lernen kann, dass das seither gängige und biografische Konfliktlösungsmuster auch ein anderes sein kann, statt auf die Fresse zu schlagen.“
Rund 220 Jugendliche sitzen in jenen Tagen in Ichtershausen ein. Die jüngsten sind 15, die ältesten sind 24. Unter ihnen ist ein Arnstädter, ein verurteilter Bankräuber. Nennen wir ihn der Einfachheit halber Sylvio P. Auch er träumt von der großen Freiheit – und davon, wie er sich all seine Wünsche finanzieren wird.
Im Sommer 1998 steht P.‘s Entlassung bevor. Am 24. Juni hat er einen Termin beim Arbeitsamt; sein Einstieg in ein geregeltes Berufsleben soll besprochen werden. Eigens dafür erhält er Freigang aus dem Knast.
Bis heute konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob Sylvio P. seinen Berater wirklich besucht hat. Tatsächlich war ein junger Mann zu dem Gespräch erschienen. Vieles deutet darauf hin, dass ein Komplize in die Rolle des P. geschlüpft war.
Als Sylvio P. an diesem Tag wieder in der Jugendstrafanstalt eintrifft, werden, das ist so üblich, all seine Mitbringsel feinsäuberlich registriert. Der Vollzugsbeamte notiert unter anderem, dass der Häftling einen 20Mark-Schein dabei hat. Er vermerkt im Protokoll sogar die Seriennummer des Geldscheins.
Erst Wochen später wird sich herausstellen, dass diese Nummer zur Fahndung ausgeschrieben ist. Sie gehört zur Beute eines Bankraubs, der sich am Vormittag jenes 24. Juni in Auma (Landkreis Greiz) zugetragen hatte.
Zwei maskierte Männer waren mit vorgehaltener Waffe in die Sparkasse gestürmt. Ihre Beute: rund 450.000 Mark. Lediglich 2000 Mark sind registriert. Und ausgerechnet einen dieser Scheine besitzt Stunden später ein Jugendlicher, der schon vier Jahre zuvor nach genau dieser Masche hohe Geldbeträge abgehoben hatte…
Der Thüringer Polizei macht 1998 eine Serie an Banküberfällen zu schaffen. Bis zum Herbst werden es 10 Raubzüge sein. Die Täter erbeuten mehr als eine Million Mark. Sieben Überfälle spielen sich in Süd- und Ostthüringen ab, drei im angrenzenden Westsachsen. Zuständig ist die Kripo in Saalfeld. Sie hat gerade erst einen neuen Chef erhalten. Michael Menzel konnte zuvor
schon an anderen Dienstorten teils spektakuläre Fälle lösen, darunter den Diebstahl der Cranach-Gemälde in Weimar. Menzel misst der Aufklärung der Banküberfälle höchste Priorität zu. Er bildet eine Sonderkommission. Bis zu 18 Beamte gehören ihr an.
„Uns hat zunächst vor allem der Modus Operandi interessiert“, erzählt Michael Menzel rückblickend. Die Kriminalisten fragen sich: Wie genau werden die Taten begangen? Welches Täterprofil lässt sich erstellen? Gibt es Parallelen zu früheren Fällen?
Tatsächlich zeigt sich schon bald, dass die Abläufe der Überfälle immer gleich sind. Die zwei, mitunter auch drei Täter drohen mit Schusswaffen. Sie fliehen mit einem Pkw, den sie nach wenigen Kilometern gegen einen zweiten, leistungsstarken Fluchtwagen wechseln. Der Fahrzeugtausch erfolgt halbwegs versteckt, meist in einem Waldgebiet. Beide Autos hatten die Bankräuber in den Vortagen gestohlen, meist in Autohäusern der Region.
Damit, so erinnert sich Menzel, sei zumindest zweierlei klar gewesen. Erstens: Die Täter bereiten sich zielgerichtet auf ihre Überfälle vor. Zweitens: Sie müssen über eine hohe kriminelle Energie verfügen; eventuell sind sie vorbestraft.
Obwohl die Bankräuber stets Masken tragen, werden sie von Zeugen recht gut beschrieben. Es soll sich um junge, sportliche Männer handeln, die einen thüringischen Dialekt sprechen. Nun beginnt sich seitens der Polizei das Bild immer mehr zu fügen. Die Taten ähneln jenem Muster, dass Sylvio P. mit einem Komplizen vier Jahre zuvor an den Tag gelegt hatte. Auch Täterbeschreibung und Dialekt passen zu der aus der Region Arnstadt stammenden Bande. Doch P. saß ja noch in Haft... Konnte es ein besseres Alibi geben?
Die Sonderkommission stürzt sich in klassische Ermittlungstätigkeit. Sie erstellt eine Liste potenzieller Täter. Sie überprüft die Alibis der Arnstädter und beobachtet deren Lebensstil. Die Verdächtigen geben auffallend viel Bargeld aus, für sportliche Autos, für ihre Wohnungseinrichtung, für Partys und für Kneipenbesuche. Obwohl sich die Beamten sicher sind, die wahren Täter zu verfolgen, scheint es, als können sie ihnen die Überfälle nicht beweisen. Nicht mal der registrierte 20-Mark-Schein von Auma taugt zu mehr als nur zu einem Indiz.
Was tun? In dieser Situation drängt Soko-Chef Menzel darauf, unbemerkt von den Verdächtigen, weiter zu ermitteln. Die Kriminalisten erstellen ein Fahndungskonzept, sie wollen möglichst den nächsten Banküberfall exakt vorhersagen.
Wie aber kann das gehen? Der tattypische Diebstahl zweier Fluchtwagen wird zum entscheidenden Ansatz. Die Saalfelder Kriminalisten werten wochenlang systematisch jeden
Autoklau in Thüringen aus. Dann, am zweiten NovemberWochenende, scheint die Bande tatsächlich wieder zugeschlagen zu haben. In Rudolstadt wird aus einem Autohaus ein Opel gestohlen. In Neustadt am Rennsteig verschwindet zur selben Zeit ein hochklassiger Mercedes vom Hof eines Autohändlers.
„Ich war davon überzeugt, dass die Täter ihre Fluchtwagen in der Nähe des Tatorts parken“, sagt Michael Menzel heute. Damals lässt er sofort nach beiden Autos suchen; jeder verfügbare Streifenbeamte in Südthüringen beteiligt sich. Tatsächlich wird der Opel bereits am Sonntag von einem Polizisten entdeckt – in Sonneberg.
Am Montag geht der nächste Hinweis ein, aus dem nahe gelegenen Schalkau. Eine Anwohnerin hat am Samstag verdächtige Gestalten bemerkt. Sie hätten nachts mit einer Taschenlampe in die Sparkasse geleuchtet.
Droht hier ein Überfall? Und falls ja: Wann?
Die Soko entwirft ein Szenario; sie legt sich auf den Donnerstag als voraussichtlichen Tattag fest, auf den späten Nachmittag. In und um Schalkau baut die Polizei eine feinmaschige Observation auf. Rund 30 Beamte in Zivil beobachten, ob sich eines der verdächtigen Fahrzeuge nähert. In der Sparkasse legt sich ein Spezialeinsatzkommando (SEK) auf die Lauer.
Am Donnerstag, dem 19. November 1998, geht gegen 16.45 Uhr der erste Hinweis ein. Der Opel fährt auf Schalkau zu. Um 17.03 Uhr
stoppt der Wagen vor der Sparkasse. Drei Maskierte stürmen in die Bank. Zwei tragen Maschinenpistolen, einer eine Pistole. Bereits im Vorraum stellen sich ihnen Beamte in den Weg; auch der Soko-Chef gehört zu ihnen. Ein Bankräuber, er ist Linkshänder, richtet seine Pistole auf Michael Menzel. Ein SEKBeamter schießt schneller. Er zielt auf die Hand des Räubers. Die Kugel streift dessen Armbanduhr, sie prallt ab und trifft sein Herz. Der Angreifer ist sofort tot. Es ist Sylvio P..
Seine Komplizen versuchen zu fliehen. Sie kommen nur wenige Meter weit. Sie geben weder aus ihrer Kalaschnikow noch aus der belgischen Maschinenpistole einen Schuss ab.
Sylvio P. wurde nur 22 Jahre alt. Die letzten vier Jahre hatte er in der Jugendstrafanstalt verbracht. Nur wenige Wochen waren ihm in Freiheit vergönnt.
Seine Komplizen kommen vor Gericht. Unter ihnen ist ein vierter Täter, der in Schalkau nicht dabei war. Sie werden des schweren Raubes, erpresserischen Menschenraubes, Verstoßes gegen das Waffengesetz, schweren Diebstahls und Geiselnahme bezichtigt. Polizisten mit Maschinenpistolen bewachen den Sitzungssaal. Die Angeklagten werden in Fußfesseln vorgeführt.
Der Prozess zieht sich anderthalb Jahre in die Länge. Das Gericht verhängt Freiheitsstrafen zwischen sieben Jahren sowie zehn Jahren und zehn Monaten.
Wenige Tage vor der Verkündung des Urteils setzt eine neue Serie an Überfällen auf Kreditinstitute in Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen ein. Sie endet erst am 4. November 2011 in Eisenach mit dem Tod der beiden Bankräuber. Es handelt sich um die NSUTerroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Ihnen konnte die Polizei auf die Spur kommen, weil sie ein ähnliches Fahndungskonzept ersonnen hatte wie schon die Saalfelder Soko im Jahre 1998.
Damals kursierte der offene Brief des Nordhäuser Theaterchefs und seiner Regisseurin. In ihm warfen sie auch diese Frage auf: „Haben wir alles getan, tun wir genug, um jugendliche Straftäter vom Rückfall zu befreien, mithin nach Mitteln zu suchen gegen die zunehmende Gewalt und Verrohung?“
Die Regisseurin Uta Plate bietet noch immer Theater-Workshops an – nicht nur, aber eben auch für jugendliche Straftäter. Sie hat die Hoffnung nicht aufgegeben.
Bankräuber mögen sterben, aber die Hoffnung stirbt zuletzt.