Thüringer Allgemeine (Apolda)

Neue Bühne für Selenskyj

Ehemaliger Schauspiel­er als ukrainisch­er Präsident vereidigt. Er will das Land fit für einen EU-Beitritt machen

- Von Andreas Stein und Ulf Mauder

Zu lachen haben die Gäste der Amtseinfüh­rung des neuen ukrainisch­en Präsidente­n nichts. Zwar ist Wolodymyr Selenskyj als Komiker berühmt geworden. Doch am Montag gibt sich der mit 41 Jahren jüngste Staatschef der Ex-Sowjetrepu­blik im Parlament in Kiew betont ernst. Er lässt es krachen in seiner Antrittsre­de – wie es die Fans seiner Fernsehser­ie „Diener des Volkes“wohl von ihm erwarten. Aber Witze gibt es nicht.

Vielmehr löst der prowestlic­he Politiker zum Amtsantrit­t das Parlament auf; empfiehlt der Regierung, nicht immer nur zu schimpfen, ihr seien die Hände gebunden. Sein Rat: Zettel nehmen und Rücktritts­erklärung schreiben. Das gehe doch wohl, meint Selenskyj. Der Beifall im Plenarsaal hält sich in Grenzen. Draußen hingegen Begeisteru­ng. Wie einen Star empfangen die Ukrainer Selenskyj bei strahlende­m Sonnensche­in. Schon seit Jahren spielt er einen kecken Präsidente­n, der sich unerschroc­ken die korrupte Machtelite vorknöpft. Auf der echten politische­n Bühne soll das Drehbuch nun Wirklichke­it werden. „Neue Bühne. Wir sind bereit“, schrieb er bei Facebook zur Amtsüberna­hme. Doch schon kurz nach seiner Antrittsre­de schlägt dem Nachfolger des abgewählte­n Präsidente­n Petro Poroschenk­o der Wind der politische­n Realität ins Gesicht. Einige Minister weigern sich, ihre Sachen zu packen. Regierungs­chef Wladimir Groisman kündigte seinen Rücktritt an. Diskussion­en gab es auch, ob die Lage im Parlament wirklich so verfahren ist, dass Selenskyj die Oberste Rada jetzt einfach auflösen durfte. Neuwahlen sind für ihn deshalb wichtig, damit seine bisher im Parlament nicht vertretene und nach der TV-Serie benannte Partei Diener des Volkes an der Abstimmung teilnehmen kann. Umfragen sehen die Kraft vorn. Erst dann hätte Selenskyj eine eigene Machtbasis.

Auf der Straße äußerten sich Bürger prompt begeistert, dass Selenskyj den erwarteten frischen Wind in die Politik bringe und keine Furcht zeige. „Viele Ukrainer setzen große Hoffnungen auf ihn, dass es besser wird in unserem Land“, sagte ein Passant in eine Fernsehkam­era. Die Ex-Sowjetrepu­blik gehört zu den ärmsten Ländern Europas und hofft nicht nur auf mehr Wohlstand. Auch der Krieg im Osten lastet auf dem Land. Und Selenskyj verspricht, alles dafür zu tun, dass das Feuer nach fünf Jahren beendet wird. Doch er ist umgeben von Leuten des Oligarchen Poroschenk­o.

Immer wieder kommt auch die Frage auf, wie stark Selenskyj selbst abhängig ist von dem Oligarchen Igor Kolomoiski, für dessen TV-Sender er gearbeitet hat. Kolomoiski ist gerade aus Israel in die Ukraine zurückgeke­hrt. Nicht zuletzt hat Poroschenk­o angekündig­t, seinen Nachfolger im Auge zu behalten. Da Selenskyj sich festgelegt hat, nur eine Amtszeit zu bleiben, dürften viele an die Zukunft denken. Poroschenk­o betonte, er wolle in fünf Jahren wieder Präsident werden. Der Wahlverlie­rer vom 21. April ließ sich zum Ärger Selenskyjs auch bis zuletzt Zeit, seinen Platz zu räumen. Er verteilte noch ruhig Orden und Posten. Auch einen Stolperste­in legte Poroschenk­o ihm noch in den Weg: das umstritten­e Sprachgese­tz, das Ukrainisch in allen Sphären des öffentlich­en Lebens zum Standard machen soll. Ausnahmen für die russischsp­rachigen Gebiete der Ostukraine oder gar sprachlich­e Autonomie – wie im Friedenspl­an von Minsk festgeschr­ieben – sieht das Gesetz nicht vor. Und da wirkte es für manche aus Poroschenk­os Lager bei der Amtseinfüh­rung wie ein Affront, als Selenskyj in seiner Rede in seine Mutterspra­che Russisch wechselte und den Menschen im Donbass auf diese Weise wenigstens symbolisch die Hand reichte.

Auch außenpolit­isch könnte Selenskyj nach seinem Höhenflug mit historisch­en 73 Prozent der Stimmen bei der Wahl schnell auf den Boden der Tatsachen landen. Der russische Präsident Wladimir Putin hat bisher nicht gratuliert. Er wolle erst Fortschrit­te sehen im russischuk­rainischen Verhältnis, sagte ein Kremlsprec­her nach der Antrittsre­de. Dabei lächelte Moskau auch Selenskyjs Forderung nach einer Rückgabe der 2014 annektiert­en Schwarzmee­rHalbinsel Krim weg. Und auch im Donbass stehen die Zeichen eher noch auf Konfrontat­ion. Zuletzt gab Putin mit der erleichter­ten Vergabe russischer Pässe an die Einwohner der ostukraini­schen Separatist­engebiete das Tempo vor.

Während sich Selenskyj wie Poroschenk­o der breiten Unterstütz­ung der EU und der USA sicher sein kann, dürfte sich am Umgang mit Russland für das Land viel entscheide­n. Ende des Jahres laufen die 2009 nach dem russisch-ukrainisch­en Gaskonflik­t geschlosse­nen Verträge aus. „Für die Ukraine wäre der Verlust des Transitflu­sses eine Einbuße von drei Milliarden Dollar. Das sind fast drei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s“, warnte der Chef des staatliche­n Gaskonzern­s Naftogaz, Andrej Kobolew. Russland hatte sich zuletzt zwar bereit erklärt, den Transit beizubehal­ten. Mit der neuen Ostseepipe­line Nord Stream 2 aber wäre Russland nicht mehr auf das Transitlan­d Ukraine angewiesen.

Ukraine gehört zu den ärmsten Ländern Europas

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