„Es muss authentisch sein“
Erfurts Domorganist Silvius von Kessel komponiert eine große Messe. „Missa Cum Jubilo“erklingt zu den Achava-Festspielen
Die Partituren sind fertig, der Klavierauszug ist schon gedruckt. Zahllose Seiten voller Noten liegen auf dem Flügel. Musik, die nachdenklich, erhebend, traurig und optimistisch ist. Sie ist eine Herausforderung für einen gewaltigen Chor, ein großes Orchester und bietet Stoff für zwei besondere Abende im Erfurter Dom: Missa Cum Jubilo.
Für den Komponisten, den Erfurter Domorganisten Silvius von Kessel, ist diese Messe ein Mammutprojekt, dessen Wurzeln schon während seines Studiums in Essen und Paris gelegt wurden. Damals wurde ihm mehrfach bestätigt, dass er außergewöhnlich talentiert im Komponieren sei. „Aber ich wollte an die Orgel, ich hab das Lob damals kaum zur Kenntnis genommen“, schaut er zurück.
Seit einem Vierteljahrhundert lebt Silvius von Kessel in Erfurt. Der Zufall brachte ihn damals nach Thüringen – als er und ein Freund auf dem Weg von Weimar zurück in die Studienstadt Paris kurzentschlossen abbogen, um sich auch noch Erfurt anzusehen. Auf dem Domberg trafen sie auf den Domorganisten Wilhelm Kümpel, erfuhren, dass er bald in den Ruhestand gehe und eine Organistenstelle ausgeschrieben werde. Wenige Wochen später verriet Silvius von Kessel seinem verehrten Orgellehrer Olivier Latry in der Kathedrale Notre Dame, dass seine Zukunft wohl in Thüringen liege.
Zwei Jahre Arbeit und Hunderte Seiten Partitur
In Erfurt hat Silvius von Kessel eine Familie gegründet, seine Frau und die fünf Kinder sind wie er hochmusikalisch. Heute ist der nun 54-Jährige Domorganist und Domkantor, in Weimar ist er Honorarprofessor für Orgel an der Musikhochschule, für das Bistum ist er Kirchenmusikbeauftragter und Orgelsachverständiger, zudem ist er ehrenamtlich Vorsitzender der Thüringer Bachwochen.
Von Kessel hat in seinen 25 Erfurter Jahren nicht nur sein „Alltagsgeschäft“als Kirchenmusiker, sondern viele weitere Herausforderungen gestemmt. Zum 500. Geburtstag der Domglocke „Gloriosa“entstand eine außergewöhnliche CD. Zum Papstbesuch 2011 spielte er die Orgel. Er studierte mit dem Domchor das „Weihnachtsoratorium“von Richard Wetz ein, führte Bachs „Magnificat“ gemeinsam mit dem Erfurter Tanztheater im Dom auf. Und nun eine Messe als Eigenkomposition? „Die Ideen dazu sind gereift über die Jahre. Es sollte eine Marienmesse werden“, sagt er mit Blick auf den Mariendom, das Marienmosaik, die Gloriosa. Von Weihbischof Reinhard Hauke kam Ermunterung und die Idee einer Partnerschaft mit dem Achava-Festival. Das Festival thematisiert Musik und Glauben, bringt Judentum, Christentum, Islam auch musikalisch zueinander. Festival-Intendant Martin Kranz zeigte sich sofort aufgeschlossen. „Unser Festival will neugierig machen, es dreht sich um Menschen und Musik“, sagt er. „Ich fand es reizvoll, gemeinsam mit Silvius von Kessel Neuland zu betreten.“
Ein Jahr veranschlagte der Organist für das Komponieren, es wurden zwei. Nur die Leitung des Domchores gab er ab – „an Ekkehard Fellner, der das großartig macht.“Alle anderen Verpflichtungen erfüllte er wie gewohnt. Sein Ziel: „Es muss authentisch sein. Man muss die innere Notwendigkeit verspüren.“Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei – so manches klingt anders als gewohnt. Der Einstieg beim „Kyrie“nimmt Anleihen in der Gregorianik. Das „Gloria“, oft pompös geschmettert, kommt zart und lichterfüllt daher. Das „Sanctus“, der Engelsgesang, klingt sphärisch und fragend. Das „Agnus Dei“(Lamm Gottes) birgt für die Zuhörer Überraschungen. Und das „Dona nobis pacem“(Gib uns deinen Frieden) bekam einen eigenen Satz und malt musikalisch ein großes Friedensbild.
Von Kessel nutzte beim Komponieren nicht nur Papier, sondern auch ein sehr komplexes Notensatzprogramm am Computer, das ihn gelegentlich zur Verzweiflung trieb. Die Musik sei tonal, enthalte aber auch Passagen, die jenseits der üblichen Hörgewohnheiten lägen, erzählt er. „Die Franzosen hatten immer beides, das Tonale und die Avantgarde.“Emotionen, Fragen, selbst Durchlebtes wie Abschiede und Trauer flossen ein in das Werk, ebenso wie die Glücksgefühle.
Er weiß noch, wann die Messe fertig war: in der Nacht zum 1. Oktober 2018. In den Monaten darauf warteten zahlreiche Korrekturen. Als besonders knifflig erwies sich die Aufgabe, Hunderte Seiten Partitur mit den wechselnden Instrumentenstimmen „einzudampfen“und in einem Klavierauszug zu vereinigen – dem Notenmaterial, das die Chöre in die Hand bekommen.
So entstanden 70 Minuten Musik, die bisher noch nicht in der Welt waren. Eine symphonische Messe für Chöre, Solisten, Großes Orchester und Orgel. Die Weimarer Staatskapelle ist gefordert, vier Gesangssolisten, der Domchor, Studenten der Musikhochschule Weimar-Belvedere, zudem der Kinderchor am Erfurter Dom und der Kinderchor der Erfurter Chorakademie. „In dieser Größenordnung dürfte es zeitgenössisch wenig Vergleichbares geben“, sagt er bescheiden. George Alexander Albrecht, langjähriger Generalmusikdirektor der Weimarer Staatskapelle und selbst Komponist, bescheinigt der Missa Cum Jubilo: „Das ist ein bedeutendes Werk.“Und Martin Kranz meint: „Es ist eine Freude und Ehre für Achava, eine solche Uraufführung begleiten zu können.“Die Proben haben schon begonnen.