Kevin Kühnert, die DDR und wir
Leser setzen sich mit den Äußerungen des Juso-Chefs sowie mit den Reaktionen darauf auseinander
Zu „Nahles distanziert sich von Kühnert. SPD-Chefin kritisiert umstrittene Sozialismus-Thesen des Juso-Vorsitzenden“vom 4. Mai:
30 Jahre nach dem Mauerfall reicht ein Interview, um wieder die Ideologiekeule zu schwingen und Angst vor Diktatur und Planwirtschaft zu schüren. Man könnte denken, die SED stünde in der Wählergunst bei 40 Prozent. Ein Teil des Landes regt sich auf, als würden diese Gedanken eines Jusovorsitzenden zum neuen Gespenst Deutschlands werden. Die wirklich großen Gefahren für dieses Land und alle anderen auf diesem Planeten scheinen nicht so wichtig, wenn man von Christian Lindners peinlichen Reaktionen auf Fridays for Future absieht.
Der Philosoph Herbert Schnädelbach hat sich sehr interessant zum Thema Ideologie geäußert: „Die vollkommene Anpassung des Bewusstseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart“.
Diese Aussage trifft den Kern unseres aktuellen Unvermögens, auf die eigentlichen Herausforderungen der Zeit zu reagieren. Der Verlust der Artenvielfalt, der Klimawandel, die stärker werdende soziale Schere zwischen arm und reich, der Verlust an gemeinsamen Visionen, Werten und Solidarität etc. bedrohen uns grundsätzlich. Uns droht mehr als der Verlust unseres Wohlstandes!
Bereits Andeutungen von Kritik und kleine in diesem System unbedeutende Vorschläge, wie ein Tempolimit bringen die Ideologen von heute zum Kochen. Alles, was die Maxime Wachstum nur im entferntesten gefährden könnte, wird mit den Argumenten Arbeitsplätze, Verlust an Wohlstand und Verlust des sozialen Friedens abgelehnt.
Was wir heute brauchen, ist nicht das Leugnen von Fakten, wie es die AfD oder Trump beim Klimawandel tun, es ist nicht das immer wieder geäußerte „Weiter so“.
Wir müssen raus aus diesem pubertären Verhalten, die Welt gehört uns und wir wollen erst einmal alles ausprobieren, erleben, konsumieren und immer weiter wachsen. Wir sollten erwachsen werden. Verantwortliches Handeln und ehrliche Reflektion ist gefragt. Das ist nicht nur die Aufgabe der Politik, es ist unser aller Aufgabe.
Wir brauchen einen anderen Lebensstil, getragen von der gesamte Gesellschaft. Wir brauchen einen gemeinsamen Diskurs darüber, wie es weitergehen kann. Freiheit bedeutet Verantwortung und nicht einfach alles zu tun, was man kann.
Andre Schäfer, Arnstadt und Brüderlichkeit zu gestalten.
Die Fantastischen Vier brachten es in der TA vom 14. Mai auf einen Nenner: „Angst spaltet die Gesellschaft“.
Kevin Kühnert wagte sich, etwas für seine Zukunft auszusprechen. Dazu muss man (kann man aber) nicht nur die DDR zitieren. Man könnte auch den gewöhnlichen Kapitalismus benennen mit seinen Widersprüchen, Ausbeutungsmethoden, Verblödungsmechanismen, der Rüstungsgier und den ganz gewöhnlichen Lügen. Da Kühnert die DDR nicht kannte, muss das abgestrafte und untergegangene Land auch nicht als Gespenst vorgeführt werden.
Und dann die TA 30 Jahre nach der Wahl vom 7. Mai 1989. Der offensichtliche Wahlbetrug war eben nicht mehr das eindrucksvolle Bekenntnis, sondern der Anfang vom Ende. Und. Gegner der DDR gab es im Westen schon immer.
Was ist mit den Menschen, die bewusst für den Sozialismus stimmten? Ja, der real existierende Sozialismus sollte auf die Füße eines neuen demokratischen Sozialismus gestellt werden. Wenn heute, 30 Jahre danach, junge Menschen in der Chronik lesen, dass am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag, Polizei und Stasi auf Demonstranten einprügelten, werden Hunderttausende, die den Jahrestag feierten, einfach unter den Tisch gekehrt. Und so kommen sich zahlreiche Bürger heute noch vor.
Wenn heute elementare Wahrheiten weggelassen werden, verschwinden Biografien, die plötzlich wieder von Bedeutung sind. Weil auch diese Stimmen gebraucht werden. Was soll heute die Aufarbeitung der Treuhandmachenschaften bringen? Höchstens eine grausame Wahrheit über die wirklichen Absichten der Behörde, die sich ganz gewiss aus eigenem Antrieb den Auftrag gab, den Osten umzustrukturieren und dem westdeutschen Modell anzupassen.
Wenn die Enttäuschten enttäuscht werden, weil ihnen fortwährend Halbwahrheiten über ihr Leben vorgesetzt werden, muss man sich schon fragen, wer wem in die Tasche arbeitet.
Hartwig Mähler, Niederroßla