Selbst Feen können sich erkälten
TA-Autor Matthias Kaiser besucht bemerkenswerte Orte in der Heimat. Heute: die Saalfelder Feengrotten
Inzwischen habe ich ein Alter erreicht, in dem der Mensch damit beginnen sollte, ab und an seine im Laufe des Lebens gesammelten Erinnerungstücke zu ordnen. Wer will schon gern ein Erbe hinterlassen, das im Nachhinein bei Familie oder Freunden auch Irritationen auslösen könnte.
Eingedenk dieser Erkenntnis genehmige ich mir also passend zum Thema hin- und wieder ein Fläschchen „Müller-Thurgau Spätlese trocken“und beginne in den Schuhkartons zu stöbern, in denen ich einige der für mich wichtigsten Souvenirs meines bewegten, ja teilweise sogar stürmischen Lebens aufbewahre.
So erinnere ich mich stets beim Betrachten der zerfledderten Tischkarte meines Tanzstunden-Abschlussballs, an meinen ersten Kuss; durchforstete jedes Mal sowohl den Stapel von Ansichtskarten wie auch die zahlreichen liebevoll mit der Hand geschriebenen Briefe verflossener Verehrerinnen.
Nur zwei graue Kärtchen mit der Aufforderung, mich „ ... umgehend zur Klärung eines Sachverhaltes" beim VolkspolizeiKreisamt zu melden, reduzieren mein Maß an Wiedersehensfreude schlagartig.
Doch um mit den Worten meines Freundes Peter Sodann zu sprechen: „Auch, wenn ich diese Zeiten nicht wiederhaben möchte; will ich sie aber auch nicht missen."
Während ich mich also durch die Asservate meines Lebens wühlte, hielt ich letztens plötzlich ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto in der Hand. Auf dem ich mich als kleinen Steppke erkannte, der gemeinsam mit anderen Kindern vor dem Stollenausgang der Saalfelder Feengrotten lustig in die Kamera winkte. Was die links und rechts postierten Grottenführer augenscheinlich zu nerven schien, denn sicherlich im Bewusstsein ihrer verantwortungsvollen Aufgabe, wirkten beide dem aus der griechischen Sage bekannten Cerberus – also jenem Höllenhund, der den Eingang zur Unterwelt bewacht. Oder um es auf das Foto zu münzen: Sie blickten grimmig, wie zwei „Höhlenhunde“. Plötzlich packte mich wieder jene nostalgische Sehnsucht und ich beschloss spontan, noch in diesem Frühjahr das Reich der Feen wieder einmal zu besuchen. (Ein Verlangen, das mich schon einmal vor fünfzehn Jahren packte. Die damaligen Erlebnisse sind im zweiten Band des Buches „Mein ThüringerWald-(B)revier“nachzulesen).
Zu jener Zeit hatte ich auch das erstmalige Vergnügen der charmanten Oberfee, Geschäftsführerin Yvonne, begegnen zu dürfen. Ihr Enthusiasmus bei der Leitung und Planung ihres Feenreiches wirkte seinerzeit derart ansteckend, dass niemand vermutet hätte, dass sie ihren Beruf einst beim Reisebüro der DDR erlernt hatte; also bei jener „Urlauber-Vermittlungsbehörde“, bei der Fantasie ebenso wenig gefragt war, wie ein Fleischklopfer im Haushalt eines Vegetariers.
Blieben zwei Fragen: Würden wir die Chefin überhaupt am Wochenende antreffen? Und
dann die viel spannendere: Inwieweit konnte sie ihre Träume hinsichtlich der touristischen Zukunft ihres Unternehmens, aber auch ihrer Region – sie schwärmte damals schon von regionalen Netzwerken – in die Tat umsetzen? Ein Scheitern hätte in Thüringen keinen Seltenheitswert, denn unsere offensichtlich noch immer nach dem veralteten preußischen Prinzip „von oben nach unten“geleitete Tourismusbranche, verhinderte wiederholt, dass sich Menschen mit Gestaltungsfreude entfalten können.
Die erste Frage war schnell beantwortet, denn als wir am Morgen eines ungemütlichen Samstags im Mai, der so kalt war, dass Verschwörungstheoretiker sich in ihrer Überzeugung bestätigt sehen konnten, der Klimawandel zählte zu den Fake News, in die gepflegte Einfahrt der Feengrotten einbog, entdeckte ich Frau Yvonne auf dem Mitarbeiter-Parkplatz. Keck parkte ich neben ihr.
Für einen kurzen Moment hegte ich die Befürchtung, sie könne mich vielleicht wegen meiner körperlichen Metamorphose nicht wiedererkennen und mich ähnlich maßregeln, wie zwei Wochen zuvor der Wirt des Gasthofes Zum Haflinger in Meura. Der mir an einem sonnigen Vormittag, in einem derart anmaßendem Ton die Leviten las, weil ich mein Auto auf seinem leeren (!)
Parkplatz nicht korrekt zwischen die weißen Markierungen abgestellt hatte. Was bei uns – wir wären die einzigen Gäste gewesen – übrigens jede Lust an einer Einkehr im Keime erstickte.
Yvonne Wagner hingegen reagierte mit jener liebenswürdigen Souveränität, die mich schon vor anderthalb Jahrzehnten fasziniert hatte: „Unsere Mitarbeiter-Parkplätze werden an den Wochenenden ohnehin nicht alle benötigt, Herr Kaiser. Bleiben sie also ruhig stehen und ...“kleine, gut gespielte Kunstpause „ ... erst mal herzlich willkommen. Kaffee in fünf Minuten im Gasthaus Feengrotten."
Dieser Aufforderung folgten der wir auch wegen der morgendlichen Frische nur allzu gern. Kurze Zweit später plauderten wir mit Oberfee Yvonne bei aromatischem Cappuccino über Gott, die Welt, die Feengrotten und über die sichtbaren Veränderungen in Saalfeld, einem eher unscheinbaren Städtchen, das zum Zeitpunkt meines ersten Ausflugs im touristischem Nirgendwo taumelte und sicherlich auch wegen der Übernahme seiner Fremdenverkehrsvermarktung durch die im Jahre 2000 eigens dafür erweiterte Saalfelder Feengrotten und Tourismus GmbH sich für alle ersichtlich von einem hässlichen Entlein in einen derart attraktiven Schwan verwandelt hat, dass sich immer mehr Gäste angezogen fühlen. In Erinnerung an die frühere Trostlosigkeit ist das eine Glanztat der Feengrotten GmbH, die am 22.Dezember des Jahres 2017 dadurch belohnt wurde, dass sich Saalfeld seither mit dem Titel „Staatlich anerkannter Ort mit Heilstollenkurbetrieb“schmücken darf.
Das wiederum war nur möglich war, weil die schon einmal 1937 und nach dem Krieg vernachlässigte Heilstollentherapie im Jahre 1994 wieder reaktiviert wurde.
Diese und viele andere gute neue Ideen beweisen, dass Yvonne Wagner Gleichgesinnte um sich geschart hat. Eine verschworene Gemeinschaft, die rings um die im Dezember 1913 durch Zufall entdeckte fabelhafte Tropfsteinhöhle im Laufe der letzten Jahre eine Erlebniswelt
der Feen, Elfen und Trolle etabliert hat, die auf die Besucher inzwischen eine ähnliche Anziehungskraft ausübt, wie der immer wieder aufs Neue atemberaubende Gang durch das ehemalige Alaunschiefer-Bergwerk, der dem Besucher nicht nur die Schönheit der unterirdischen Tropfsteinwelt offenbart, sondern auch einen Einblick in den harten von Schweiß und Blut getränkten Alltag der Bergleute vergangener Jahrhunderte gewährt. Und wem es in der Tiefe des Berges nicht genügend schaudert, der kann im 2011 eröffneten „Grottoneum“den beschwerlichen Alltag der Bergleute wissenschaftlich fundamentiert, sechssprachig und rollstuhlgerecht erleben.
„Eine vordergründig auf Technik orientierte Ausstellung, die wir bewusst für tatenlustige Knaben eingerichtet haben. Gewissermaßen als Gegenstück zur Feenwelt, in der sich erfahrungsgemäß vor allem die mehr schwärmerisch veranlagten jungen Mädchen wohlfühlen", erklärt uns Yvonne Wagner. „Gedanken, die uns übrigens auch bewogen haben, auf dem Hof vor dem Brunnenhaus ein mittelalterliches Göpelwerk, eine Wasserkunst und eine Schatzsuche aufzubauen."
Während Yvonne Wagner uns mit immer mehr neuen Zukunftsvisionen bombardierte, hatte sie nebenbei zum Telefon gegriffen und wir hörten, wie sie eine Franzi bat, Anna und Nathalie am Eingang zum Feenweltchen zu warten, um uns dort herumzuführen. „Natürlich im Feenkostüm, liebe Franzi.“Die stellte sich bei unserer Begegnung übrigens als Franziska Schreyer vor und ist seit vierzehn Jahren als gute Fee so etwas wie das Mädchen für alles.
Angesichts der Tatsache, dass es inzwischen sogar zu schneien begonnen hatte, überkam mich beim Gedanken an die leicht bekleideten Feen ein mulmiges Gefühl. Wusste ich doch, dass trotz allem märchenhaften Arbeitseifers selbst Feen anfällig für Erkältungen sind.
Eigentlich wäre ich nach dem obligatorischen Gang durch die Grotte – dies nicht zu tun wäre so, als hätte man beim Besuch des Münchner Oktoberfestes keine Maß Bier getrunken, – viel lieber ins gemütliche Gasthaus zurückgekehrt, in dem jetzt kurz vor 11Uhr am Morgen die ersten Gäste Thüringer Klöße orderten, serviert mit Mutzenbraten oder mit Rinderrouladen, wirkten sie beim Vorbeitragen derart appetitlich, dass mir sogar für einen winzigen Moment in den Sinn kam, auf das Oktober-Maßbier,
pardon, den Grottengang, zu verzichten. Natürlich hatte Yvonne meine anerkennenden Blicke registriert und zwei Minuten später standen wir folgerichtig in der Küche. Heureka – schon das zweite Lokal innerhalb von vier Wochen – Sie erinnern sich an das Gasthaus „Ebertswiese“, das tatsächlich noch handgefertigte Thüringer Klöße anbietet? Sogar die Kartoffeln reibt und presst man selbst. Im Vorbeigehen schob mir irgendeine Fee ein Stück Mutzenbraten in den Mund. „Kosten!“
In ihrem Drang nach zufriedenen Gästen können Feen unerbittlich sein.
„Unser gesamtes Fleischsortiment beziehen wir übrigens ebenso wie die Mehrzahl unserer anderen Naturalien aus der Region. Man darf nicht nur, wie derzeit wieder vor der Wahl üblich, über Regionalität schwadronieren, sondern muss auch handeln. Dabei sind wir selbst dann nicht von unserem Weg abgewichen, nachdem wir feststellen mussten, dass sich unser Wareneinkauf seit unserem absoluten Bekenntnis zur Region erheblich preisintensiver gestaltet.“
Im Kopf wägte ich Freude und materiellen Verlust allein bei den vielen Tausend traditionell gewürzten originalen Thüringer Rostbratwürsten gegeneinander ab, die dem Gast für 2,50 Euro direkt vom Holzkohlengrill in ein aufgeschnittenes Brötchen gelegt werden. Das Ergebnis war eindeutig: Einen solcher Genuss darf nicht dem schnöden Mammon geopfert werden. Übrigens: Sogar die Holzkohle bezieht Yvonne aus einer der letzten Köhlereien im Thüringer Wald.
Dieses Handeln für die Region bildet derzeit auch die Grundlage für ihr neuestes Projekt: Die Bewerbung Thüringer Produkte, Handwerkskunst und Kultur unter dem mittlerweile inzwischen arg ins Unterbewusstsein gerückten Motto „Thüringen, das grüne Herz Deutschlands“. Vor weit über einhundert Jahren vom berühmten August Trinius erfunden, war dieser Spruch für viele Jahre nach der Wende der erfolgreichste Werbeslogan unseres Freistaates. So lange jedenfalls, bis uns gekaufte Werbefachleute weismachten, dass er veraltet und vermottet klingt. Eine Aussage, bei der mir als Thüringer dieHaarezuBergestehen–vor allem, weil ihr die für unsere Werbung verantwortlichen Funktionsträger wie Lemminge folgten.
Alles in allem sicherlich erneut ein Projekt, das erneut aufhorchen lassen und dazu führen wird, dass viele ihrer Bewunderer die blonde Yvonne gern an exponierterer Stelle im Thüringer Tourismus sehen würden. Doch da winkt die Feengrottenchefin, die vor einigen Wochen ihr 25-jähriges Dienstjubiläum feiern konnte, genervt ab. „Mein Platz ist hier.“
Und die frierenden Feen?
Erst gegen halb zwei habe ich sie angetroffen: Anna und Nathalie. Zwei mittlerweile blau gefrorene Märchengestalten mit kleinen Flügelchen, die uns trotz des miesen Wetters mit einem derart strahlendem Eifer durchs Feenwäldchen führten, dass ich spontan entschied, am nächsten Wochenende mit einem Koffer anzureisen.
Doch das ist eine neue Geschichte.