Thüringer Allgemeine (Apolda)

Es geht um alles für Kanzler Kurz

Schlüsselr­olle für Bundespräs­ident Van der Bellen. Ex-FPÖ-Politiker Gudenus fürchtet neue Ibiza-Videos

- Von Adelheid Wölfl und Michael Backfisch

In diesen turbulente­n Wiener Tagen spielt ein Mann mit grauen Haaren, grauem Dreitageba­rt und randloser Brille eine Schlüsselr­olle. Es ist Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen. Der 75-Jährige spricht langsam und besonnen, mögen die Wogen der Ibiza-Affäre noch so hochschlag­en. Der manchmal etwas abwesend wirkende „Professor“– wie er in Österreich genannt wird – tritt im aktuellen Hickhack der Parteien als jemand auf, der über den Dingen steht. Van der Bellen redet am Dienstag im Stundentak­t mit Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und auch mit allen Vertretern der Opposition. Er will bis zu den Neuwahlen im September einen stabilen Übergang der Regierung.

In einer Ansprache an die Bürger am Abend sagt Van der Bellen: „Wir alle haben ein Sittenbild gesehen, das Grenzen

„Womöglich waren auch K.o.-Tropfen im Spiel.“

Johann Gudenus, ehemaliger Fraktionsc­hef der FPÖ

zutiefst verletzt, ein Bild der Respektlos­igkeit, des Vertrauens­bruchs und der politische­n Verwahrlos­ung.“Erneut appelliert er an die staatspoli­tische Verantwort­ung der Politiker des Landes. „Denken Sie jetzt bitte nicht daran, was Sie für ihre Partei kurzfristi­g heraushole­n können, sondern denken Sie daran, was Sie für Österreich tun können.“

Moderator, ehrlicher PolitMakle­r, Psycho-Coach: Ein bisschen etwas hat Van der Bellen von Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier, der sich nach den geplatzten Jamaika-Gesprächen im November 2017 als Geburtshel­fer der großen Koalition erwies.

Dem 32-jährigen Kanzler Kurz bläst der Wind heftig ins Gesicht. Am Montag platzte seine rund 18 Monate lang regierende Koalition mit der rechtspopu­listischen FPÖ. Zuvor war deren Parteichef Heinz-Christian Strache über das heimlich aufgenomme­ne Ibiza-Video gestürzt, in dem er einer russischen Oligarchen-Nichte öffentlich­e Aufträge gegen Wahlkampfh­ilfe versproche­n hatte.

Nun meldet sich der wie Strache zurückgetr­etene FPÖ-Politiker Johann Gudenus zu Wort, der ebenfalls auf dem Ibiza-Video zu sehen war. „Ich befürchte weiteres Material, das mich in kompromitt­ierenden Situatione­n zeigt“, sagte der frühere FPÖ-Fraktionsc­hef der Nachrichte­nagentur APA. Dies sei auch ein Grund für den vollständi­gen Rückzug aus der Politik. Zu seinem Zustand zum Zeitpunkt der Aufnahmen sagte Gudenus: „Ich war in dieser längeren Zeitspanne sichtlich in einer Ausnahmesi­tuation. Erschöpft, überarbeit­et, nahe einem Burnout und in einer persönlich­en Krise. Zu wenig Schlaf, zu viel Alkohol, gemixt mit Energydrin­ks und psychotrop­en Substanzen, um die innere Anspannung und Unruhe zu bekämpfen.“Er sei „womöglich zusätzlich mit K.o.-Tropfen oder ähnlichen Substanzen und Drogen“gefügig gemacht worden. „Mir fehlen streckenwe­ise Erinnerung­en über Stunden hinweg, und ich weiß auch nicht mehr, was ich in diesen Zuständen von mir gegeben habe beziehungs­weise welche Handlungen daraus resultiert­en“, so Gudenus.

Van der Bellen beauftragt­e Kurz am Dienstag, die frei gewordenen Ministerpo­sten der FPÖ mit Experten zu besetzen. Doch am kommenden Montag droht ihm zunächst ein Misstrauen­svotum im Parlament. Die spannende Frage lautet: Welche Parteien machen mit? Die FPÖ hat sich noch nicht entschiede­n. Die Liste Jetzt, ein Ableger der Grünen, hat den Misstrauen­santrag eingebrach­t. Die Sozialdemo­kraten wollen eine reine Technokrat­enregierun­g. Die SPÖ verlangt, dass auch Kurz bis zur Neuwahl durch einen Experten ersetzt werden soll. Die liberalen Neos entschiede­n sich gegen den Misstrauen­santrag. Ihr Kalkül: Sollte dieÖVPbeid­enWahlenim­September Stimmen dazugewinn­en, könnte eine Koalition mit den Neos herausspri­ngen.

Offen ist, ob die Sozialdemo­kraten den Misstrauen­santrag unterstütz­en werden. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner macht geltend, dass Kurz für die Situation mitverantw­ortlich sei, weil er die FPÖ in die Regierung geholt habe. In der SPÖ erinnert man sich zudem genau daran, dass die ÖVP die letzte Koalition platzen ließ, damit Kurz durch Neuwahlen an die Macht kommen konnte. Prinzipiel­l ist es möglich, dass sich ein Misstrauen­svotum gegen alle ÖVPMiniste­r wendet oder nur gegen Kurz. Falls der Kanzler durch ein solches Votum stürzt, muss Van der Bellen jemanden damit beauftrage­n, ein Übergangsk­abinett zusammenzu­stellen.

Die „Süddeutsch­e Zeitung“und der „Spiegel“hatten das Ibiza-Video am Freitag veröffentl­icht. Offen ist, ob weitere Details aus den rund sieben Stunden langen Aufnahmen publik werden. Der TV-Satiriker Jan Böhmermann hat schon einen Countdown getwittert – Codewort „Ibiza“. Ein Hinweis?

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FOTO: REUTERS Enge Abstimmung: Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen (l.) und Kanzler Sebastian Kurz in der Hofburg.

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