Es geht um alles für Kanzler Kurz
Schlüsselrolle für Bundespräsident Van der Bellen. Ex-FPÖ-Politiker Gudenus fürchtet neue Ibiza-Videos
In diesen turbulenten Wiener Tagen spielt ein Mann mit grauen Haaren, grauem Dreitagebart und randloser Brille eine Schlüsselrolle. Es ist Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Der 75-Jährige spricht langsam und besonnen, mögen die Wogen der Ibiza-Affäre noch so hochschlagen. Der manchmal etwas abwesend wirkende „Professor“– wie er in Österreich genannt wird – tritt im aktuellen Hickhack der Parteien als jemand auf, der über den Dingen steht. Van der Bellen redet am Dienstag im Stundentakt mit Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und auch mit allen Vertretern der Opposition. Er will bis zu den Neuwahlen im September einen stabilen Übergang der Regierung.
In einer Ansprache an die Bürger am Abend sagt Van der Bellen: „Wir alle haben ein Sittenbild gesehen, das Grenzen
„Womöglich waren auch K.o.-Tropfen im Spiel.“
Johann Gudenus, ehemaliger Fraktionschef der FPÖ
zutiefst verletzt, ein Bild der Respektlosigkeit, des Vertrauensbruchs und der politischen Verwahrlosung.“Erneut appelliert er an die staatspolitische Verantwortung der Politiker des Landes. „Denken Sie jetzt bitte nicht daran, was Sie für ihre Partei kurzfristig herausholen können, sondern denken Sie daran, was Sie für Österreich tun können.“
Moderator, ehrlicher PolitMakler, Psycho-Coach: Ein bisschen etwas hat Van der Bellen von Bundespräsident FrankWalter Steinmeier, der sich nach den geplatzten Jamaika-Gesprächen im November 2017 als Geburtshelfer der großen Koalition erwies.
Dem 32-jährigen Kanzler Kurz bläst der Wind heftig ins Gesicht. Am Montag platzte seine rund 18 Monate lang regierende Koalition mit der rechtspopulistischen FPÖ. Zuvor war deren Parteichef Heinz-Christian Strache über das heimlich aufgenommene Ibiza-Video gestürzt, in dem er einer russischen Oligarchen-Nichte öffentliche Aufträge gegen Wahlkampfhilfe versprochen hatte.
Nun meldet sich der wie Strache zurückgetretene FPÖ-Politiker Johann Gudenus zu Wort, der ebenfalls auf dem Ibiza-Video zu sehen war. „Ich befürchte weiteres Material, das mich in kompromittierenden Situationen zeigt“, sagte der frühere FPÖ-Fraktionschef der Nachrichtenagentur APA. Dies sei auch ein Grund für den vollständigen Rückzug aus der Politik. Zu seinem Zustand zum Zeitpunkt der Aufnahmen sagte Gudenus: „Ich war in dieser längeren Zeitspanne sichtlich in einer Ausnahmesituation. Erschöpft, überarbeitet, nahe einem Burnout und in einer persönlichen Krise. Zu wenig Schlaf, zu viel Alkohol, gemixt mit Energydrinks und psychotropen Substanzen, um die innere Anspannung und Unruhe zu bekämpfen.“Er sei „womöglich zusätzlich mit K.o.-Tropfen oder ähnlichen Substanzen und Drogen“gefügig gemacht worden. „Mir fehlen streckenweise Erinnerungen über Stunden hinweg, und ich weiß auch nicht mehr, was ich in diesen Zuständen von mir gegeben habe beziehungsweise welche Handlungen daraus resultierten“, so Gudenus.
Van der Bellen beauftragte Kurz am Dienstag, die frei gewordenen Ministerposten der FPÖ mit Experten zu besetzen. Doch am kommenden Montag droht ihm zunächst ein Misstrauensvotum im Parlament. Die spannende Frage lautet: Welche Parteien machen mit? Die FPÖ hat sich noch nicht entschieden. Die Liste Jetzt, ein Ableger der Grünen, hat den Misstrauensantrag eingebracht. Die Sozialdemokraten wollen eine reine Technokratenregierung. Die SPÖ verlangt, dass auch Kurz bis zur Neuwahl durch einen Experten ersetzt werden soll. Die liberalen Neos entschieden sich gegen den Misstrauensantrag. Ihr Kalkül: Sollte dieÖVPbeidenWahlenimSeptember Stimmen dazugewinnen, könnte eine Koalition mit den Neos herausspringen.
Offen ist, ob die Sozialdemokraten den Misstrauensantrag unterstützen werden. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner macht geltend, dass Kurz für die Situation mitverantwortlich sei, weil er die FPÖ in die Regierung geholt habe. In der SPÖ erinnert man sich zudem genau daran, dass die ÖVP die letzte Koalition platzen ließ, damit Kurz durch Neuwahlen an die Macht kommen konnte. Prinzipiell ist es möglich, dass sich ein Misstrauensvotum gegen alle ÖVPMinister wendet oder nur gegen Kurz. Falls der Kanzler durch ein solches Votum stürzt, muss Van der Bellen jemanden damit beauftragen, ein Übergangskabinett zusammenzustellen.
Die „Süddeutsche Zeitung“und der „Spiegel“hatten das Ibiza-Video am Freitag veröffentlicht. Offen ist, ob weitere Details aus den rund sieben Stunden langen Aufnahmen publik werden. Der TV-Satiriker Jan Böhmermann hat schon einen Countdown getwittert – Codewort „Ibiza“. Ein Hinweis?