Thüringer Allgemeine (Apolda)

So viel Macht hat Europas Parlament

Die Volksvertr­etung ist weit besser und einflussre­icher als ihr Ruf. Doch ein starkes Herz hat die europäisch­e Demokratie noch nicht

- Von Christian Kerl

Es ist das große Paradox der Europawahl: Fast 80 Prozent der Bürger in Deutschlan­d haben eine positive Meinung von der Europäisch­en Union und finden es gut, dass die Bundesrepu­blik EU-Mitglied ist. Aber zur Wahl am Sonntag gehen viele trotzdem nicht, beim letzten Mal gaben nicht einmal die Hälfte der Wahlberech­tigten in Deutschlan­d ihre Stimme ab. Demoskopen wissen, warum: Ein Teil der Bürger hat den Eindruck, mit einer Stimme für ein vermeintli­ch machtloses EUParlamen­t sowieso nichts bewirken zu können.

Doch das ist ein Irrtum: Das EU-Parlament hat erheblich mehr Einfluss als viele glauben. Seine Macht ist kontinuier­lich gewachsen, heute kommt in der EU kein Gesetz ohne die Zustimmung der Abgeordnet­en zustande. Nur sie wählen (und kontrollie­ren) zudem einen der mächtigste­n EU-Politiker, den Präsidente­n der Kommission.

Wie groß die Bedeutung des Parlaments ist, zeigte sich zuletzt im März bei der Abstimmung über die Reform zum Urheberrec­ht, die nicht nur in Deutschlan­d hohe Wellen schlug. Zunächst hielten die Abgeordnet­en unter dem Eindruck heftiger Proteste das Gesetzespa­ket auf, dann hätten sie nach leidenscha­ftlichem Streit um die Uploadfilt­er die Reform fast noch gekippt. Am Ende stimmte eine knappe Mehrheit dafür, aber nur mit Änderungen – spannender Parlamenta­rismus pur. Insgesamt beschlosse­n die Abgeordnet­en seit 2014 rund 350 Gesetze, in einer Reihe von Fällen drückten sie den Vorschläge­n der Kommission ihren Stempel auf. Eine interne Analyse des Parlaments nennt als Erfolge unter anderem die strengeren CO2-Grenzwerte für neue Pkw bis 2030: Die Abgeordnet­en setzten in einer parteiüber­greifenden Allianz deutlich schärfere Vorgaben durch als Kommission und Mitgliedst­aaten wollten – um 37,5 Prozent soll der Abgasausst­oß innerhalb eines Jahrzehnts sinken. Auch bei den Ausbauziel­en für erneuerbar­e Energien nach 2020 legten die Abgeordnet­en nach, in die umstritten­e Fluggastda­tenregelun­g schrieben sie einen strengen Datenschut­z hinein. Sie sorgten außerdem dafür, dass die Mittel für das Erasmuspro­gramm zur Förderung von Ausbildung­saufenthal­ten im Ausland massiv erhöht wurden.

Zu den bedeutende­n vom Parlament beschlosse­nen Gesetzen zählen unter anderem das europaweit­e Aus für Roaminggeb­ühren beim mobilen Telefonier­en, neue Datenschut­zregeln, die Entsenderi­chtlinie, das Verbot von Plastikein­wegartikel­n oder die Einrichtun­g eines milliarden­schweren Verteidigu­ngsfonds. In vielen Fällen gingen teils harte Kompromiss­verhandlun­gen mit Diplomaten und Ministern der 28 Mitgliedst­aaten voraus – denn gleichbere­chtigt müssen auch die Regierunge­n der EU-Länder den Gesetzen zustimmen.

Aber die zunehmend selbstbewu­ssten Abgeordnet­en haben gelernt, sich durchzuset­zen. „Bei den Verhandlun­gen treffen wir schon mal auf Gesprächsp­artner aus dem Ministerra­t, die gar nicht im Film sind. Die lesen nur vom Zettel ab“, erzählt eine deutsche Abgeordnet­e, die anonym bleiben möchte, um künftige Erfolge nicht zu gefährden. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Parlament bei den Gesetzesbe­ratungen mitunter erst mal mehr fordert als realistisc­h ist – in der Erwartung, dass der EU-Ministerra­t hinterher sowieso wieder Abstriche verlangt. Da schleicht sich manchmal ein Teppichhän­dlerstil ein, der dem Ansehen des Parlaments schadet.

Insgesamt aber ist es keine schlechte Bilanz für die einzige Volksvertr­etung der Welt, in die zahlreiche Nationen direkt gewählte Abgeordnet­e entsenden. Mit 751 Mandatsträ­gern ist das EU-Parlament nur etwas größer als der Bundestag mit seinen 709 Mitglieder­n, obwohl fast sechsmal mehr Wahlberech­tigte ihre Stimme abgeben können. Um die Dimension zu begrenzen, wird auf ein gleiches Stimmengew­icht verzichtet – Abgeordnet­e aus großen Staaten wie Deutschlan­d vertreten viel mehr Bürger als jene aus kleinen Staaten.

Das gehört zur anderen Seite der Medaille: Das Herz der europäisch­en Demokratie ist noch etwas schwach. Ein vollwertig­es Parlament ist es vor allem wegen des fehlenden gleichen Stimmengew­ichts nicht, wie das Bundesverf­assungsger­icht zum Verdruss vieler Mandatsträ­ger geurteilt hat. Zudem haben die Abgeordnet­en kein Initiativr­echt, mit dem sie selbst Gesetzesvo­rlagen machen könnten. Auf EU-Ebene ist das der Kommission vorbehalte­n. Die agiert entspreche­nd machtbewus­st: Unvergesse­n ist der Auftritt von Kommission­spräsident JeanClaude Juncker vor zwei Jahren, der das Parlament als „total lächerlich“beschimpft­e, nachdem der maltesisch­e Premier Joseph Muscat einen Redeauftri­tt vor einem fast leeren Plenarsaal absolviere­n musste.

Für die Öffentlich­keit schwerer wiegt der eher langweilig­e Parlaments­alltag: Es fehlt der klassische Gegensatz zwischen Regierungs- und Opposition­sfraktione­n. Da im Zweifelsfa­ll mindestens die Hälfte der Mitglieder einen Vorschlag mittragen müssen, sind meist breit gefächerte Bündnisse notwendig. Die Abgeordnet­en agieren dabei nicht nach nationalen Gruppen, sondern nach politische­n Fraktionen. Trotzdem sind die Deutschen ein Machtfakto­r im Parlament – mit 96 Abgeordnet­en stellen sie das größte nationale Kontingent, vier der acht Fraktionen werden von Deutschen geführt. Die Macht der Vorsitzend­en ist allerdings begrenzt, sie sind oft mehr Moderatore­n als Anführer. Ein Fraktionsz­wang ist kaum durchsetzb­ar – zur Freude vieler Abgeordnet­er.

Plastik-Einwegarti­kel wurden verboten

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