Thüringer Allgemeine (Apolda)

Ganz bitter

Während die Volksparte­ien CDU und SPD historisch­e Niederlage einstecken, sind Grüne im Höhenflug

- Von Martin Debes und Elmar Otto

Marion Walsmann hat den sommerlich­en Sonntag genutzt, um nach dem Wählen mit Familie und Hund spazieren zu gehen. Doch der entspannte­n Atmosphäre an der frischen Luft folgt am frühen Abend die Anspannung im „Siju“, der Gaststätte am Rathaus, wo sich die lokale CDU versammelt hat, um auf die Wahlergebn­isse zu warten. „Natürlich bin ich aufgeregt“, gesteht die Thüringer Spitzenkan­didatin der Union für die Europawahl.

Walsmann weiß, wie Wahlkampf geht. Vor fünf Jahren hatte sie entgegen allen Prognosen Bodo Ramelow den Erfurter Landtagswa­hlkreis abgenommen. Eine Niederlage hätte das Aus für ihre lange politische Karriere bedeutet. Da sie, um die Nominierun­g zu erhalten, ihr Mandat im Thüringer Parlament aufgab, wurde auch der EUWahlkamp­f für sie zu einer Art Endspiel.

Als um 18 Uhr die erste Hochrechnu­ng über die große Leinwand flimmert, ist Walsmanns Miene eingefrore­n. Der Moderator spricht von einem „historisch schlechten“Resultat der Volksparte­ien. „Oje“, sagt die CDU-Frau, aber meint wohl die SPD, die es noch schlimmer erwischt hat. Sie sitzt in einem violetten Sessel, eingerahmt von ihrem Mann Thomas Hutt und dem Spitzenkan­didaten für die Stadtratsw­ahl, Michael Panse. Walsmann nimmt einen Schluck Aperol Spritz, aber zu feiern gibt es nichts.

Auch bei der SPD ist die Stimmung am Boden. Spitzenkan­didatin Babette Winter steht im hellblauen Sommerklei­d in der Erfurter Parteizent­rale vor enttäuscht­en Genossen. Sie hat sich als Kulturstaa­tssekretär­in freistelle­n lassen, ist kreuz und quer durch Thüringen getourt, um für die SPD und Europa zu werben. „Wir können vielleicht alle keine Waffeln mehr sehen“, witzelt sie in Anspielung auf die Wahlkampfv­erpflegung und erntet Lacher von den ansonsten betreten dreinschau­enden Parteifreu­nden.

Von vornherein waren die Aussichten für sie schlecht, weil die Bundespart­ei Thüringen nur mit einem hinteren Listenplat­z bedachte. Aber dass es so schlimm kommen würde, hatte dann doch niemand geahnt. Winter will sich davon aber nicht abschrecke­n lassen. „Ich werde solange ich atme für ein einiges Europa mit dem Fernziel einer föderalen Europäisch­en Union kämpfen. Das verspreche ich euch.“Applaus.

„Ganz bitter“, sagt SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee. Er beschönigt nichts, spricht von einem „Absturz“. Die SPD habe es nicht geschafft, verlorenes Vertrauen zurückzuge­winnen. Man müsse darüber diskutiere­n, warum ein Thema wie das „soziale Europa“nicht durchdring­en konnte. Eine Antwort darauf hat er zurzeit nicht. Tiefensee gratuliert Winter für ihren engagierte­n Wahlkampf, nennt sie eine starke, erfahrene Frau, die für Europa und Kultur stehe.

Susanne Hennig-Wellsow verfolgt die Entwicklun­gen des Wahlabends gemeinsam mit Mitglieder­n des Linke-Stadtverba­ndes im Erfurter Lokal „Nerly“. Die Fraktions- und Landeschef­in trinkt alkoholfre­ies Bier. Die Frage, wie die Stimmung sei, beantworte­t sie nach kurzem Überlegen mit „konzentrie­rt“und erläutert auch gleich warum: Am Ende sei es ein „abstruses Wahlergebn­is“. Auf der einen Seite Bremen: „Wo wir möglicherw­eise jetzt um RotRot-Grün streiten. Mit einer extrem gestärkten Linken, die uns auch Hoffnung macht für den Landtagswa­hlkampf in Thüringen.“Auf der anderen Seite sei das Europawahl­ergebnis enttäusche­nd. „Ein Mandat weniger für uns im Europa-Parlament schwächt die Stimmen für ein solidarisc­hes und soziales Europa“, sagt sie. Angesichts des Drucks von rechts auf Europa und etwa 120 Sitzen für extrem rechte Parteien im Europaparl­ament sei dies umso nötiger.

Auch Robert-Martin Montag hofft noch am frühen Abend. Er steht auf Platz 7 der FDP-Bundeslist­e, einziehen ins Parlament werden aber maximal sechs. „Vielleicht wird es ja noch was“, sagt er trotzdem. Aber egal, wie es ausgehe, für ihn gelte: „Wir haben einen guten Wahlkampf gemacht. Wir konnten für die Idee der Demokratie werben. Da sollte man sich nicht beklagen.“ Der Linke Martin Schirdewan hetzt am Abend zwischen den Fernsehstu­dios in Berlin hin und her. Er ist der nationale Spitzenkan­didat seiner Partei – und zumindest formal auch der Kandidat des Thüringer Landesverb­andes, dessen Mitglied er seit dem vergangene­n Jahr ist. Er bleibt Abgeordnet­er im EU-Parlament, aber ist natürlich nicht zufrieden. „Wir haben uns mehr erhofft. Das bestimmend­e Thema war der Klimaschut­z, hier sind wir nicht durchgedru­ngen.“

Die Bündnisgrü­nen feiern in den Räumen der grünen Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Dort hüpft die Bundestags­fraktionsv­orsitzende Katrin GöringEcka­rdt um 18 Uhr kameragere­cht auf und nieder.

Die Partei hat ihr Ergebnis von 2014 etwa verdoppelt und liegt deutlich vor der SPD: Größer könnte ein Sieg kaum ausfallen. „Das ist ein sensatione­lles Ergebnis“, sagt denn auch Göring-Eckardt. Der Klimaschut­z habe diesmal eine entscheide­nde Rolle gespielt. „Da ist uns ein Handlungsa­uftrag und zugleich eine riesige Verantwort­ung.“

Die Thüringer Grünen haben keine eigenen Kandidaten aufgestell­t. Sie unterstütz­en wie die Parteikoll­egen aus Sachsen-Anhalt und Sachsen die Berlinerin Anna Cavazinni. Sie hatte ihr Mandat auf Platz 7 von Anfang an sicher und feiert auf einer Wahlparty in Dresden das Ergebnis. „Das ist der Hammer“, ruft sie ins Telefon, „das ist historisch“. „Das war eine Klimawahl, jetzt müssen wir etwas draus machen.“

Die AfD hat als einzige größere Partei in Thüringen weder einen Kandidaten aufgestell­t noch unterstütz­t. Landeschef Stefan Möller gibt sich zweigeteil­t. „Das bundesweit­e Ergebnis kann uns nicht zufrieden stellen“, sagt er. „Wir hatten ja diverse Kampagnen gegen uns laufen, auch vom Verfassung­sschutz. „In Thüringen sieht es aber für uns viel besser aus“, sagt er. „Das ist eine hervorrage­nde Ausgangsba­sis für die Landtagswa­hlen im Herbst.“

Ob die Christdemo­kratin Walsmann ins Europaparl­ament einzieht, steht lange nicht fest. Am späten Abend jedoch hat sie mehr als 250.000 Stimmen erhalten und nimmt zurückhalt­end erste Gratulatio­nen entgegen. „Ich denke, man kann davon ausgehen, dass es geschafft ist“, formuliert Walsmann aber weiter vorsichtig.

Eine Werbung für die Idee der Demokratie

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FOTO: MARCO KNEISE Wahlhelfer zählen gestern die Stimmen für die Europawahl im Europazimm­er des Rathauses in Nordhausen.
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FOTOS (): SASCHA FROMM Die Kunstaktio­n #LOVEUROPE mit der Präsentati­on der LOVE-HATE-Skulptur von Mia Florentine Weiss (im Foto) war am Samstag auf dem Erfurter Domplatz.
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Annalena Baerbock, Bundesvors­itzende von Bündnis /Die Grünen, warb in Erfurt.

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