Thüringer Allgemeine (Apolda)

War es das für Manfred Weber?

Die Mehrheit von Christ- und Sozialdemo­kraten ist dahin. Für den EVP-Spitzenkan­didaten wird es schwer, Kommission­spräsident zu werden

- Von Christian Kerl

Es ist eine Zäsur für die europäisch­e Politik, ein Beben für das Europäisch­e Parlament. Die Wahllokale haben noch gar nicht überall in der EU geschlosse­n, da ist schon klar, dass sich die Machtverhä­ltnisse in der Herzkammer der europäisch­en Demokratie verschoben haben – auch dank einer allseits begrüßten gestiegene­n Wahlbeteil­igung. Mit weit reichenden Folgen: Die Rechtspopu­listen legen zu, auch wenn sie weit von einer Mehrheit oder einer Blockadema­cht im Parlament entfernt sind. Und: Die Vormacht der beiden großen Parteien von Christdemo­kraten (EVP) und Sozialdemo­kraten (S&D) ist nach vier Jahrzehnte­n zu Ende auch wegen ihrer massiven Verluste in Deutschlan­d.

Die Großen haben zum ersten Mal seit der Direktwahl-Premiere des EU-Parlaments 1979 zusammen keine absolute Mehrheit mehr. Die Zeiten einer informelle­n großen Koalition in Brüssel und Straßburg sind endgültig vorbei.

Eine Erschütter­ung, keine Revolution. In den vergangene­n zwei Jahren war die Zusammenar­beit von EVP und S&D ohnehin schon brüchig geworden. Jetzt wird die Suche nach Mehrheiten richtig komplizier­t. Die beiden Großen müssen mindestens entweder die auf Platz drei erstarkten Liberalen ins gemeinsame Boot holen oder die Grünen – sicherheit­shalber wohl besser beide. Welche Rolle die Linke spielt, ist noch offen. Der rechte Rand wird stärker, in der politische­n Mitte wird es enger: Für die Brüsseler Gesetzgebu­ngsmaschin­erie brechen unruhige Zeiten an. Udo Bullmann, Fraktionsc­hef der Sozialdemo­kraten

Aber erstmal steht nun gleich zu Beginn ein ungewöhnli­ch harter Machtkampf bevor, wie ihn diese Volksvertr­etung noch nicht kannte: Die dringendst­e Aufgabe des Parlaments und die Probe auf künftige Mehrheiten wird die Wahl des mächtigen EU-Kommission­spräsident­en, die zentrale Personalen­tscheidung der EU für die nächsten fünf Jahre: Übernimmt nach über 50 Jahren endlich wieder ein Deutscher diesen Job? Der EVP-Spitzenkan­didat Manfred Weber ist mit diesem Anspruch angetreten, aber die Chancen des sanften Bayern schätzten hochrangig­e EU-Politiker schon vor der Wahl auf 50:50. Dass der CSU-Vize nicht mal für die Union in Deutschlan­d ein Zugpferd war, dürften seine Kritiker in Brüssel mit Genugtuung vermerken.

War’s das für Weber? Noch nicht. „Ich als Parlamenta­rier werde jetzt die Hand ausstrecke­n den anderen Fraktionen gegenüber - denen, die auch an Europa glauben“, kündigte er an. Schließlic­h bleibt die EVP trotz Verlusten klar stärkste Kraft – gegen sie geht wenig. CDU-Chefin Kramp-Karrenbaue­r erklärt am Abend, die Union werde den Anspruch Webers auf das Präsidente­namt bekräftige­n.

Aber es ist eine doppelte Machtprobe: Weber braucht die Unterstütz­ung der EU-Regierungs­chefs, die nach den EUVerträge­n allein den Kandidaten vorschlage­n müssen. Und er benötigt zugleich eine Mehrheit im Parlament, das den Präsidente­n wählt. Leicht wird es für ihn nicht. Ohne Unterstütz­ung der auf Platz zwei bestätigte­n Sozialdemo­kraten kann Weber seine Ambitionen begraben. Der sozialdemo­kratische Spitzenkan­didat Frans Timmermans strebt aber offiziell weiter ein Bündnis gegen Weber an, auch wenn eine Mehrheit selbst mit Grünen, Liberalen und Linken schwer erreichbar sein dürfte. Der amtierende Fraktionsc­hef der Sozialdemo­kraten, der Deutsche Udo Bullmann, sagt dennoch: „Wir werden in den nächsten Tagen für Timmermans kämpfen“.

Die gestärkten Liberalen auf Platz drei wiederum wollen selbst eine „entscheide­nde Rolle“in Brüssel spielen, wie ihr Fraktionsc­hef Guy Verhofstad­t angekündig­t. Womöglich schicken sie die Wettbewerb­skommissar­in Margrethe Vestager aus Dänemark ins Rennen.

Die Zeit läuft. „Weber hat nur zwei Tage, um ein Bündnis zu schmieden“, heißt es. Am Dienstagab­end treffen sich die EU-Regierungs­chefs zum Sondergipf­el, um beim Dinner über die bevorstehe­nden Personalen­tscheidung­en zu sprechen – neben dem Chef der Kommission sind auch die Präsidente­n des Europäisch­en Rates und der Europäisch­en Zentralban­k (EZB) zu besetzen; für den EZB-Posten käme auch Bundesbank-Präsident Jens Weidmann in Betracht, sollte Weber mit seinen Ambitionen scheitern. Eine beachtlich­e Reihe von Regierungs­chefs haben sich schon klar dagegen ausgesproc­hen, dass zwingend ein Spitzenkan­didat Kommission­spräsident werden muss. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron hat diese Gruppe angeführt, sich dabei klar gegen den konservati­ven Weber positionie­rt. Macron ist freilich durch seine Niederlage in Frankreich gegen die rechtsradi­kale Truppe von Marine Le Pen geschwächt: Ob er seine Pläne, Webers EVP-Parteifreu­nd und Brexit-Chefunterh­ändler Michel Barnier aus Frankreich durchzuset­zen oder Vestager, scheint fraglich. Viel hängt jetzt von Kanzlerin Angela Merkel ab: Wie viel Energie wird sie daran setzen, Weber durchzuset­zen?

Er selbst kämpft. Weber will am Montagaben­d in Brüssel mit den Fraktionsc­hefs von Sozialdemo­kraten, Liberalen und Grünen zusammen kommen, um die Chancen für ein gemeinsame­s Vorgehen auszuloten. Am Dienstag wird er dann mit allen Fraktionsc­hefs des Parlaments beraten. Die Grünen nennen schon Bedingunge­n für eine mögliche Unterstütz­ung: Vor allem geht es ihnen um einen entschloss­eneren Kurs beim Klimaschut­z, wie die Spitzenkan­didatin Ska Keller betont. Und auch einen EUKommissa­r wollen die Grünen stellen. Die Liberalen kündigen ebenfalls harte Verhandlun­gen an. Weber stehen harte Tage bevor. Sein erstes Ziel ist es, die Fraktionsc­hefs auf einen klaren Kurs einzuschwö­ren: Nur wer als Spitzenkan­didat angetreten ist, soll als Kommission­spräsident wählbar sein. Andernfall­s, warnt Weber, drohe „eine Selbstaufg­abe des Parlaments“. Unter den Fraktionen der Mitte wird zudem eine weitere Hürde gegen ein Diktat der Regierungs­chefs vorbereite­t: Eine Verständig­ung auf ein Programm, das umzusetzen der künftige Kommission­spräsident verpflicht­et werden soll. Wenn das gelänge, wäre das ein erhebliche­r Machtgewin­n für die Abgeordnet­en, weil die Festlegung der Linien für die EU-Kommission bisher Sache der Regierungs­chefs war. Erste Bedingunge­n werden am Wahlabend diskutiert – und klingen erst mal so, als wollten die möglichen Bündnispar­tner ihre eigenen Programme umgesetzt sehen. Wie weit der Verständig­ungswille in der politische­n Mitte reicht, wird sich schon an einer anderen Personalie erweisen: Wer wird neuer Präsident des Parlaments? Amtsinhabe­r Antonio Tajani von den italienisc­hen Konservati­ven würde gern weitermach­en. Aber bessere Chancen hat offenbar der Liberale Verhofstad­t aus Belgien. Die Erwartung bei Webers potenziell­en Partnern ist klar: Die Zeit, in der die Christdemo­kraten alle Posten besetzen, ist vorbei.

„Wir werden in den nächsten Tagen für Timmermans kämpfen“

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FOTO: DPA Frans Timmermans, SPE-Spitzenkan­didat.

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